DER MYTHOS VON DER NOTLAGE

Seit dem Attentat von Solingen überbietet sich die Politik in Forderungen, die Rechte von Geflüchteten zu beschneiden oder gar auszusetzen. Nicht nur die CDU und ihr Vorsitzender Friedrich Merz preschen mit radikalen Forderungen vor und inszenieren sich dabei als Retter eines Volkes im Ausnahmezustand. Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser kündigte am Montag an, Grenzkontrollen auf alle deutschen Landesgrenzen auszuweiten, unter anderem, um irreguläre Migration zu begrenzen. Befinden wir uns aber wirklich in einem Notstand und können deshalb etablierte Rechte außer Kraft gesetzt werden? Auch wenn die Rhetorik von Merz und Teilen der Bundesregierung dies anders implizieren – aus rechtlicher Perspektive ist die Antwort klar: Zurückweisungen aufgrund einer „Notlage“ lassen sich weder durch das Flüchtlings- noch durch das Europarecht rechtfertigen. DIE FORDERUNG EINES AUFNAHMESTOPPS FÜR ASYLSUCHENDE AUS SYRIEN UND AFGHANISTAN Auslöser der aktuellen migrationspolitischen Diskussionen ist das schreckliche Attentat von Solingen. Die asylrechtliche Geschichte hinter dem Attentäter ist schnell erzählt: Er reiste nach Deutschland ein, stellte einen Asylantrag, woraufhin dieser wegen der Zuständigkeit Bulgariens aufgrund der Dublin III-VO abgelehnt wurde. Ein vermeintlicher Abschiebeversuch scheiterte, weil der Mann nicht in seiner Unterkunft angetroffen wurde. Schlussendlich lief die Überstellungsfrist ab, es wurde ein nationales Asylverfahren durchgeführt und der Mann erhielt den subsidiären Schutzstatus. Allenthalben heißt es nun: Hätten der Staat und seine Behörden nicht versagt, wäre der Mann abgeschoben worden, und die schreckliche Tat hätte nicht stattgefunden. Zunächst sei auf eine Banalität hingewiesen: Das Dublin-Regime und seine Durchsetzung dienen weder der Gefahrenabwehr noch der Verhinderung schwerer Straftaten. Das Dublin-Regime ist ein asylrechtliches Zuständigkeitssystem (welches derweil aus allen erdenklichen Perspektiven seit Jahrzehnten nicht funktioniert). Und wenn man es genau nimmt, stellt die Zuständigkeit durch Fristablauf im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung in diesem Fall die Funktionalität des Dublin-Regimes nicht in Frage, sondern bestätigt diese. Denn ein Ziel der Verordnung ist die „rasche“ Zuständigkeitsbestimmung (etwa Erwägungsgrund 5). „AUFNAHMESTOPP“ IST SO IRRATIONAL WIE IRREFÜHREND Die Forderung eines „Aufnahmestopps“ für Asylsuchende aus Syrien und Afghanistan ist so irrational wie irreführend – zumal Merz sie mit falschen Aussagen zu den bisherigen Aufnahmezahlen von Schutzsuchenden aus diesen Ländern garniert. Wenn Merz diese Forderung sogleich relativiert, das grundgesetzliche Asylrecht nach Art. 16a GG nicht in Frage stellen will und allein von einem  „faktischen Aufnahmestopp“ spricht, macht es dies nicht besser, sondern allenfalls noch unklarer. Wenn nun von zahlreichen Seiten das grundgesetzliche Asylrecht als sakrosankt bezeichnet wird, zeugt dies von Kenntnislosigkeit. Denn Art. 16a GG wurde im Zuge der Änderung des Grundgesetzes 1993 bereits faktisch abgeschafft und hat wegen seiner Drittstaatsklausel in Abs. 2 praktisch keine Bedeutung (vgl. hier). Unklar bleibt derweil, was ein „Aufnahmestopp“ ansonsten bedeuten soll. Weder nach der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention noch der  Europäischen Grundrechtecharta (GRC) ist es möglich, das Flüchtlingsrecht, das Recht auf ein Verfahren oder die non-refoulement-Gebote auszusetzen (ausführlich dazu hier, S. 10 ff.). Auch eine nur zwischenzeitliche Aussetzung dieser zwingenden Vorgaben ist nicht vorgesehen. Zwar ermöglicht das Unionsrecht – so Art. 43 und Art. 31 Abs. 8 der noch geltenden Asylverfahrensrichtlinie –  ein beschleunigtes Verfahren bei Verfahren an der Grenze und bei einer Ankunft einer erheblichen Zahl von Asylantragsteller*innen. Auch diese Fallgestaltungen sehen jedoch nicht die vollständige Außerkraftsetzung des Asylverfahrens vor. Art. 33 GFK und Art. 3 EMRK können nicht ausgesetzt werden. Insbesondere gilt die Notstandsklausel nach Art. 15 EMRK gem. Abs. 2 nicht für Art. 3 EMRK, und damit auch nicht für das darin enthaltene refoulement-Verbot.

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