Im Frühjahr 2024 werden Leichenteile des Flüchtlings Mahdi Ben Nasr aus dem Rhein gefischt. Zunächst vermuten die Ermittler die Täter im Milieu des Tunesiers. Doch dann nimmt der Fall eine überraschende Wendung. Was geht in jemandem vor, der ein Verbrechen verübt hat und noch frei herumläuft? Bei Patrick E. weiß man, dass er sich den geselligen Weihnachtsabend im vergangenen Jahr nicht nehmen ließ. In großer Gruppe war die Familie zusammengekommen, seine drei erwachsenen Kinder, die Schwiegertochter aus Portugal, die Nachbarsfreunde, insgesamt 21 Personen. Sie hatten für ein paar Tage eine Hütte im Hotzenwald gemietet. (…) Am 4. Januar 2024 fährt eine Polizeistreife zum Hotzenwald, am südlichsten Ende des Schwarzwaldes, kurz vor der Schweizer Grenze. Oberhalb der Gemeinde Rickenbach, neben der Ferienhütte, steht ein zweistöckiges Wohnhaus. Ein Mitarbeiter der Gemeinde hatte die Polizei gerufen, die Eingangstür sei zersprungen, die Fensterscheibe der Wohnung eines Flüchtlings namens Mahdi Ben Nasr eingeschlagen, etwas stimme nicht. Und tatsächlich, die Polizisten sehen eine Blutlache, fast einen Quadratmeter groß, direkt neben dem Bett des Flüchtlings. Mahdi Ben Nasrs Geldbeutel und seine Papiere, eine Duldung, sind da, sein Handy liegt im Blut. Er selbst ist weg. Die Polizisten notieren: “Strafantrag wegen Sachbeschädigung” und “Vermisstenfall”. (…) 2017 zieht Mahdi Ben Nasr seinen Asylantrag zurück. In einem Protokoll hält das Bundesamt für Migration diese Aussage fest: “Ich möchte hier kein Asyl. Das hat mir nur Probleme eingebracht.” Weise man ihn aus, werde er “in 100 Jahren nicht zurückkommen”. Doch er wird nicht ausgewiesen. Aber das Land verlässt er auch nicht. Wegen seiner Lüge, er sei Algerier, wissen die Behörden nicht, wohin mit ihm. Als er aus dem Gefängnis kommt, weisen sie ihm die Unterkunft im Hotzenwald zu. Ein Mitarbeiter der Gemeinde sagt: “Wenn ich als Asylant hierherkomme und in so ein Loch gesteckt werde, da würd ich auch irgendwann ausflippen.” Am 6. April 2024, mehr als drei Monate nach der Tat, geht ein Notruf bei der Polizei ein. Ein Freizeittaucher hat eine Hand im Rhein gefunden. Sie ist in Maschendraht eingewickelt. Dort, auf dem Grund des Flusses bei Breisach, finden Polizeitaucher schließlich auch Mahdi Ben Nasrs Kopf. Ein Einschussloch ist deutlich zu sehen. Sie überwachen, hören ab – und liegen falsch Aus dem Vermisstenfall wird der Kriminalfall einer 60-köpfigen Sonderkommission. Sie fangen noch einmal von vorn an und durchsuchen Ben Nasrs Wohnung, die immer noch in unverändertem Zustand ist. Dort machen sie einen überraschenden Fund: Mitten in der riesigen Blutlache neben dem Bett liegt ein Projektil. Es stammt aus einer Pistole, Kaliber 7,65 Browning, und ist so deformiert, dass es Knochen durchschlagen haben muss. Ein zweites Projektil, unter der Kante eines Teppichs, entdecken sie erst Tage später. (…) Patrick E. lebt in Maulburg, eine halbe Autostunde vom Hotzenwald entfernt. Er ist im Schwarzwald aufgewachsen und hat dort drei Kinder großgezogen. Er führt eine Ehe, über die Zeugen meinen, sie sei “perfekt”. Er geht jagen und ist evangelikaler Christ. In den Polizeiakten steht, dass er manchmal glaube, er werde vom lieben Gott gelenkt. (…) Am 25. April betritt Patrick E. das Kommissariat in Lörrach. Er sagt, er habe dem Mann im Hotzenwald in den Kopf geschossen. Und auch: Ihn plage sein Gewissen. Vor Gericht wird der Richter später betonen, ohne das Geständnis wäre es wohl nie zu einem Prozess gekommen. Die Tat hätte man ihm womöglich nie nachweisen können. Als Polizisten sein Wohnhaus durchsuchen, finden sie einen Wurfstern, Schwerter, Schwarzpulver. Einen SS-Dolch. Handgranaten auf dem Schreibtisch, Handgranaten im Flur, eine Mörsergranate im Keller. Über der Hundehütte steht in altdeutscher Schrift “Wolfsschanze”, am Carport “Deutsches Schutzgebiet”. 38 Schusswaffen, für die Patrick E. als Jäger eine Erlaubnis besitzt. Nur die Tatwaffe, eine Polizeipistole aus der NS-Zeit, finden sie nicht. Die hatte Patrick E. illegal besessen. (…) Patrick E. wird zu sechs Jahren und zehn Monaten wegen Totschlag verurteilt. Es hätten bis zu zwölf Jahre sein können, noch mehr, hätte das Gericht Mord festgestellt. In der Urteilsbegründung spricht der Richter lange über die Verfehlungen von Mahdi Ben Nasr, bevor er sich dem Täter zuwendet. Dessen rassistische Äußerungen nennt er “geschmacklose Späßchen”, die Devotionalien aus der NS-Zeit “einseitiges historisches Interesse”. Dass der Jäger kurz vor Weihnachten mit einer illegalen Waffe loszog, bezeichnet er als eine “besonders unbedachte Aktion”.

via zeit: Mahdi Ben Nasr: Der Tote vom Hotzenwald

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