In dieser Woche jährt sich das Attentat am Olympia-Einkaufszentrum zum fünften Mal. Die Tat, bei der neun Menschen erschossen wurden, galt lange als unpolitischer Amoklauf. Inzwischen ist klar: Das war es nicht. Weltweit hat sich im Internet ein neuer Tätertyp radikalisiert, rechte Terroristen werden in der Szene gefeiert – und nachgeahmt. Am kommenden Donnerstag jährt sich der rassistische Anschlag am Münchner Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) zum fünften Mal. Am Abend des 22. Juli 2016 ermordete der 18-jährige Münchner David S. neun zumeist junge Menschen, einige von ihnen noch Kinder, die er für muslimische Migranten vom Balkan oder aus der Türkei hielt. Obwohl schon kurz nach der Tat die rechtsextremistische Gesinnung des Massenmörders bekannt war, wurde die Tat noch jahrelang offiziell als unpolitischer Amoklauf eingestuft. Erst im Oktober 2019 bewerteten Staatsregierung und Bayerisches Landeskriminalamt den Anschlag als politisch rechts motiviert. Drei von der Stadt München beauftragte unabhängige Gutachten, eine Entscheidung des Bundesamts für Justiz, das Urteil gegen den Waffenlieferanten des Münchner Attentäters und nicht zuletzt ein jahrelanger verzweifelter Kampf der Hinterbliebenen und ihrer Anwälte waren dieser Neubewertung voraus gegangen. Vor allem aber war es die schreckliche Erkenntnis: München war kein Einzelfall. In Ecken des Internets, die oft gar nicht versteckt sind, hat sich ein neuer rechtsterroristischer Tätertyp herausgebildet. “Einsame Wölfe” nennt der Politikwissenschafter und Extremismus-Forscher Florian Hartleb diese Täter, deren Blutspur von der norwegischen Insel Utøya (22. Juli 2011) über München (22. Juli 2016) bis Christchurch (15. März 2019), Halle (9. Oktober 2019) und Hanau (19. Februar 2020) reicht. In den vergangenen Jahren sind weit über hundert Menschen weltweit bei derartigen Anschlägen ermordet worden. Die einzeln auftretenden Täter verbindet ihr Hass auf Frauen, auf Juden, auf Muslime ebenso wie ihre Verherrlichung des Nationalsozialismus und von exzessiver Gewalt. Radikalisiert haben sie sich wie David S. im Internet.
Das Rudel. “Niemand kann sich alleine radikalisieren”, hat jüngst die Münchner Forscherin Britta Schellenberg über die Vorgeschichte des Münchner Attentats gesagt. Den Begriff “Lone Wolf” findet sie problematisch. Doch auch “einsame Wölfe sind selbstverständlich Teil eines größeren ideologischen Rudels”, schreibt der Extremismusforscher Hartleb im Vorwort zur zweiten Auflage seines gleichnamigen Buchs. Dank Hartleb kennt man das Rudel des Münchner Attentäters inzwischen ziemlich genau. Ein US-amerikanischer Hitler-Verehrer, der im Dezember 2017 bei einem rassistischen Attentat an der Aztec Highschool in New Mexico zwei Schüler mit Migrationshintergrund erschießt, und ein damals 15-Jähriger aus Gerlingen im Kreis Ludwigsburg, in dessen Schubladen Ermittler nach einem Tipp aus der Gamer-Szene die fertigen Pläne für ein Massaker an einer Schule finden, gehören dazu. Der amerikanische Rechtsextremist William A. hat den Schüler aus Baden-Württemberg mit David S. zusammengebracht. Die drei sind der Kern des Rudels, das sich auf der Spieleplattform “Steam” in einer virtuellen Gruppe trifft, die sich “Anti-Refugee Club” nennt und mehrere hundert Mitglieder hat. A. gestaltet eine Fanseite für den Münchner Attentäter, die heute noch problemlos im Netz zu finden ist. Der Jugendliche aus Gerlingen, der sich später von der Szene distanziert, war eng vertraut mit dem Münchner Attentäter. Wie eng, ist bis heute offen: War er auch derjenige, der S. am Grab des Amokläufers von Winnenden fotografierte? Und warum wählte der als Ali geborene Münchner S., als er seinen verhassten Vornamen änderte, den Namen “David” – ausgerechnet den seines engsten Freundes? Um die drei herum weitere potenzielle Attentäter mit mehr oder weniger ausgereiften Plänen: ein bis heute nicht identifizierter Account namens “Cannibalwolf”; ein weiterer Jugendlicher aus Baden-Württemberg; vielleicht auch, wie ein Extremismus-Experte vermutete, ein junger Mann, der bei einer Geiselnahme in Viernheim von der Polizei erschossen wurde – nur vier Wochen vor dem Anschlag in München. Dazu der zu mehr als sieben Jahren Haft verurteilte Waffenlieferant des Münchner Attentäters, ein Rassist, Nazi-Verehrer und “Bruder im Geiste”, wie es im Münchner Prozess gegen ihn mehrfach hieß. Drumherum das Netz der Bewunderer, der Anheizer, der möglichen Nachahmer, die die Münchner Morde bejubelten, rechtfertigten, die versprachen, dem Täter ein ehrendes Andenken zu bewahren. “He did it. Neo Ger fucking did it”, zeigte sich ein User, der sich “Ivan Der Judenjäger” nannte, begeistert vom Münchner Anschlag. Ivan ist im Netz noch immer zu finden- ein katalonischer Separatist, der den tödlichen Judenhass palästinensischer Terroristen feiert. Mit Gesichtsmaske und Gewehr im Anschlag kündigt Ivan im Mai 2021 auf Facebook an, er werde jetzt in den “White Boy Summer”-Modus übergehen. Was ist hohle Phrase, szenetypisches Posing – und was Tatankündigung? Von einem “Unterstützermilieu von Sympathisanten” spricht der Experte Roland Sieber.