Neonazis, Bomben, Tote: Die Anti-Asyl-Stimmung in der Schweiz der 1990er Jahre – und warum sie heute vergessen ist. Giorgio Scherrer (Text), Annick Ramp (Bilder) 21.04.2025, 05.01 Uhr 14 min Hören Merken Drucken Teilen Ein einziger Schlag, und Santhakumar Sivaguru liegt am Boden. Eben hat er noch gelacht, ein tamilisches Volkslied gesungen. Jetzt rinnt ihm das Blut aus der Nase, er röchelt, flach ausgestreckt auf dem Betonboden, um halb drei Uhr in dieser lauen Sommernacht im Jahr 1990. Vor ihm tänzelt ein betrunkener Boxer über den Platz. Die Fäuste schwingend, triumphierend, bis zwei Freunde ihn wegziehen. «Tamilen raus! Ausländer abfahren!», sagt er laut einem Zeugen, bevor er in der Nacht verschwindet, zwischen den Wohnblöcken von Regensdorf in der Zürcher Agglomeration. Sein Opfer, mit dem Helikopter ins Spital gebracht, erliegt am Tag darauf seinen Verletzungen. Santhakumar Sivaguru, 23, ist der sechste Flüchtling, der innert weniger Monate gewaltsam stirbt. Damals, als in der Schweiz Asylheime brennen, Neonazis in Ku-Klux-Klan-Umhängen für den «Blick» posieren und eine Welle rassistischer Gewalt das Land erfasst. Die Tat führt zu wütenden Protesten, Hunderte Tamilen halten einen Hungerstreik ab. Mitten in Zürich werden sie von den einen Schweizern mit Tee versorgt, von anderen bespuckt. Die Tat von Regensdorf – sie wird zum Symbol für den Konflikt zwischen Öffnung und Abgrenzung, der die Schweiz damals in zwei Lager trennt. Und dann verschwindet die Tat – wie die Zeit, für die sie steht – von einem Tag auf den anderen aus der kollektiven Erinnerung. Sivagurus Tod steht damit noch für etwas anderes: dafür, wie ein Land die grösste rechtsextreme Gewaltwelle seiner jüngeren Geschichte einfach so vergessen kann. (…) In Chur geht am 2. Juli 1989 eine Flüchtlingsunterkunft in Flammen auf. Im Bekennerschreiben steht: «Raus mit dem Asylanten- u. Rauschgiftpack aus unseren Dörfern u. Städten. Oder wir verheizen das Gesindel, bis keiner mehr in unseren Häusern ist!» Vier Tamilen sterben, unter ihnen zwei Kinder. Wenig später brennt es im Churer Heim zwei weitere Male. Auch in Klosters (GR), Beckenried (NW), Steinhausen (ZG), Oberiberg (SZ), Herrenschwanden (BE) und Weinfelden (TG) werden Asylunterkünfte zum Ziel von Brandanschlägen, selbst gebastelten Bomben oder Schüssen mit scharfer Munition. Die einzigen Daten zu dieser Gewaltwelle hat 1995 eine Genfer Lizenziatsarbeit zusammengetragen. Nach dieser gab es zwischen 1988 und 1993 total 378 rechtsextreme Gewalttaten, davon 114 Attentate und 79 Angriffe auf Personen. Dreimal so viele Vorfälle wie Mitte der 1980er Jahre, alle zwanzig Tage ein Anschlag. Dazu kommen Schussverletzungen, Prügeleien, Drohbriefe, Hakenkreuze. Und Rechtsextreme, die stolz für den «Blick»-Fotografen posieren. Mal in Ku-Klux-Klan-Umhängen, mal unverhüllt vor brennenden Kreuzen, die Arme zum Hitlergruss erhoben. In der Deutschschweiz bilden sich rechte Skinhead-Szenen und mehrere Neonazi-Gruppen. Sie überfallen Asylheime, machen Jagd auf Flüchtlinge, und die Polizei lässt sie – etwa im November 1989 im zugerischen Steinhausen – widerstandslos gewähren. An solchen Angriffen oft beteiligt ist die Patriotische Front, geführt vom Innerschweizer Marcel Strebel. Ihr Symbol, das Pfeilkreuz, ist dem Hakenkreuz nachempfunden. 1991 erhält sie unter dem Namen Partei der Zukunft im Kanton Schwyz 6,4 Prozent der Wählerstimmen.
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