Vor 30 Jahren wurde das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen mit Molotow-Cocktails und Steinen attackiert – die massivsten rassistischen Ausschreitungen der bundesdeutschen Geschichte. Eine multimediale Reportage über das Schicksal der Generation Lichtenhagen. Und das politische Erbe des Pogroms. (…) Im zehngeschossigen Plattenbau in der Mecklenburger Allee befindet sich auch ein Wohnheim für ehemalige DDR-Vertragsarbeiterinnen aus Vietnam, das schnell zur Zielscheibe wird. Inzwischen verstärken mehrere hundert angereiste Neonazis den lokalen rassistischen Mob. Aus der Menge werden Steine und Molotow-Cocktails durch die Fenster geworfen. Sie zeigen den Hitlergruß, brüllen „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“. Tausende Anwohnerinnen feuern die Gewalttäter an. Vor dem Haus: Applaus und Jubelschreie. Drinnen fürchten Menschen um ihr Leben. Das Sonnenblumenhaus wird umzingelt, die Einsätze der Feuerwehr verhindert. Mehr als 120 Menschen müssen sich über das Dach des Gebäudes retten. Zeitweise zieht sich die Polizei ganz zurück. Eine Kapitulation. Die Szenen vor dem Sonnenblumenhaus gehen um die Welt. Und sie liefern den Auftakt für eine brutale Welle rassistischer, rechtsextremer Gewalt im wiedervereinigten Deutschland. In den Wochen nach den Ausschreitungen in Lichtenhagen werden alleine in Mecklenburg-Vorpommern zehn Asylbewerberheime angegriffen – zum Teil mehrfach. Bundesweit werden unzählige rechtsextreme Angriffe auf Geflüchtete und Ausländer gemeldet: Allein für das Jahr 1992 zählt der Verfassungsschutz 722 rassistisch motivierte Brand- und Sprengstoffanschläge. (…) Das politische Erbe des Pogroms von Rostock wirkt bis heute fort. 1993 wurde das Asylrecht fundamental geändert: Die Drittstaatenregelung und die Einführung sicherer Herkunftsländer schafften das Grundrecht auf Asyl faktisch ab. Rostock-Lichtenhagen war nicht der alleinige Grund für diese folgenschwere Gesetzesänderung. Aber das Pogrom war zugleich Ausdruck und Katalysator einer rassistisch aufgeladenen Debatte um Migration. Und für die extreme Rechte ein großer Erfolg. „Das damalige Versagen des Rechtsstaats und die Kapitulation vor dem rechtsextremen Mob auf der Straße hat die Nazis gestärkt“, sagt Herbert Heuß, wissenschaftlicher Leiter des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Die allermeisten Sinti* und Roma*, die in der ZAst untergebracht waren, wurden abgeschoben. Und die Community in Deutschland ist bis heute massive antiziganistischer Diskriminierung ausgesetzt. Heuß warnt, dass es angesichts drohender Krisen nur eine Frage der Zeit sei, bis neue Sundenböcke gesucht würden – „und die ohnehin tiefverwurzelte Ablehnung von Sinti und Roma wieder virulent wird“.

via belltower: GENERATION LICHTENHAGEN

siehe dazu auch: Das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen (AIB 1992). Wenn wir die Vorgänge um das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen näher untersuchen, so wird deutlich, daß sowohl die Angriffe als auch die Folgen offenbar politisch gewollt waren. Die TäterInnen waren eine Mischung aus Kommunal-, Landes- und BundespolitikerInnen, höheren Polizeidienststellen sowie organisierten Neonazis und aufgehetzten AnwohnerInnen. Es bleibt eigentlich nur die Frage offen, ob es unter den Beteiligten eine direkte Absprache gab oder ob es sich um ein »freies« Zusammenspiel reaktionärer Kräfte handelte. Dem Pogrom in Hoyerswerda im letzten Jahr folgte eine bis dahin beispiellose Welle von Angriffen auf Flüchtlinge, ImmigrantInnen und Linke. Mit ihrem Verhalten zu dem Pogrom von Rostock gossen die verantwortlichen PolitikerInnen nun Öl auf das Feuer der organisierten Neonazis und der mit ihnen sympathisierenden RassistInnen. Während hunderte von Neonazis und rassistischen Jugendlichen unter dem Applaus tausender Bürger und Bürgerinnen tagelang die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZASt) attackierten, sorgten Polizei und PolitikerInnen dafür, daß die Angriffe ein »voller Erfolg« wurden. Damit war der Startschuß für eine weitere und noch größere Welle von Anschlägen und Mordversuchen gegen Flüchtlinge im ganzen Land gegeben; Polizei und Politik in Rostock: Das »Versagen« war gewollt (ak 19929 Aus dem ak-Extra zu dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen, November 1992. Das Pogrom wurde in der Presse drei Tage vorher in großer Aufmachung angekündigt. Ausführlich zitierten die örtliche »Ostseezeitung« und die »Norddeutschen Neusten Nachrichten« eine »Interessengemeinschaft Lichtenhagen«, die in Anrufen ein »heißes Wochenende« vor dem Flüchtlingsheim in Rostock-Lichtenhagen androhte. »Wenn die Stadt nicht bis Ende der Woche in Lichtenhagen für Ordnung sorgt, dann machen wir das, und zwar auf unsere Weise.« Ort und Stunde wurden genannt: »In der Nacht vom Samstag auf Sonntag räumen wir in Lichtenhagen auf.« (NNN, 19.8.) Die städtischen Verantwortlichen kündigten demgegenüber an, sie wollten »zusammen mit Polizei und Ordnungsamt nach einer Lösung suchen«, um »eine Eskalation zu vermeiden«. Von »aufgebrachten Bürgern«, von einer »Bürgerwehr« ist die Rede, sorgfältig vermieden wird eine Benennung der »Interessengemeinschaft« als rechtsradikal oder rassistisch. Eine klare Stellungnahme für die Bedrohten unterbleibt. Von seiten der Polizei herrscht in den Tagen vor dem Pogrom Funkstille. Nicht ein Schimmer der eigentlich selbstverständlichen Aussage, man werde jeden Angriff auf die Asylbewerber verhindern. Keine Ankündigung von Polizeipräsenz und Schutzmaßnahmen, keine Warnungen an die Bevölkerung, sich von zu befürchtenden Ausschreitungen fernzuhalten (wie dann eine Woche später vor der großen Antifa-Demonstration), keine erkennbaren Fahndungsmaßnahmen nach den Urhebern der Drohungen (übrigens bis heute nicht). 8:::9 Die Art der öffentlichen Behandlung durch Presse, Polizei und Stadt im Vorfeld signalisierte den Organisatoren des Pogroms und ihren Sympathisanten und Unterstützern zweierlei: Erstens, daß ihr »berechtigtes Anliegen«, die verhaßten Fremden endlich verschwinden zu sehen, von niemandem in Frage gestellt wird. Zweitens, daß sich niemand vor die Angegriffenen stellen wird und mit nennenswertem Einsatz von Polizeikräften nicht zu rechnen ist. Entlarvend auch die späteren Erklärungen: Die Stadtverwaltung soll seit Monaten befürchtet haben, »daß der Haß in Lichtenhagen zur Gewalt führen werde«. Der Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, Lothar Kupfer (CDU), behauptet, man habe die Warnungen »sehr ernst genommen» und beim Verfassungsschutz und Staatsschutz nachgefragt. Man habe auch damit gerechnet, »daß einige der Demonstranten zu Gewalthandlungen schreiten«. (Spiegel, 31.8.)

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