Rassismus in der DDR – Das verdrängte Pogrom in Erfurt 1975

Die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen 1992 gelten als erstes Pogrom gegen Ausländer in Deutschland nach 1945. Doch vor genau 45 Jahren war in Erfurt bereits Vergleichbares geschehen. Die DDR-Medien durften jedoch nicht darüber berichten. Vor dem Weltjugendlied gab es kein Entrinnen in der DDR. „Jugend aller Nationen“, „die Welt“ und „international“ waren wichtige Schlagworte: Internationale Anerkennung. Internationale Solidarität. Und die DDR als ihr eigenes Weltwunder: Alles ist gut. „30 Jahre marxistisch-leninistische Agrarpolitik. 30 Jahre Bündnis der Arbeiterklasse mit den Bauern.“ So wirbt das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ am 9. August 1975 für einen Beitrag auf Seite 3. Eine ganze Seite voller Phrasen eines Politbüro-Mitgliedes. (…) Am Wochenende ist Volksfest auf dem Erfurter Domplatz. Jugendliche geraten aneinander. Doch es ist keine kleine Volksfest-Prügelei, die sich schnell beruhigen lässt. Das Ministerium für Staatssicherheit notiert: „10. 08.: Tätlichkeiten zwischen algerischen, ungarischen (sic!) und Jugendlichen aus Erfurt auf dem Volksfest. In der Folge werden 25 algerische Bürger, die solidarisch (sic!) ihren verletzten Kollegen (2) folgen und sich selbst gegen tätliche Angriffe schützen wollen, von bis zu 300 aufgebrachten jungen Erfurter Bürgern bis in den Bereich des Hauptbahnhofs verfolgt und teilweise zu tätlichen Auseinandersetzungen provoziert.“ Bis zu 300 Jugendliche aus der DDR jagen Algerier und Ungarn durch die Straßen Erfurts. Und das ist erst der Anfang. Am nächsten Abend geht es weiter. Die Stasi hält fest: „11.08. In den Abendstunden werden Gruppen algerischer Bürger im Stadtzentrum, die korrekt auftraten, von negativen Erfurter Bürgern provoziert, ohne dass es zu Tätlichkeiten größeren Ausmaßes kommt. Gegen 23.15 Uhr stellte eine Gruppe von Erfurter Bürgern, vorwiegend Jugendliche, zwölf auf dem Weg ins Wohnheim befindliche Algerier vor der Hauptpost. Sicherheitsorgane geleiten die algerischen Bürger ins Hauptpostamt und veranlassen ihren gedeckten Abtransport (Hinterausgang) in Richtung Wohnheim. Inzwischen ist die Gruppe auf 150 Personen angewachsen; es wird provokatorisch Herausgabe der Algerier verlangt, die man laut Zwischenrufen und Sprechchören ´totschlagen bzw. hängenwill. Ihre Zielsetzung kommt auch darin zum Ausdruck, dass solche Rufe erfolgten wie ´Schlagt die Bullen tot.

Es gibt keine Bilder und keine Tonaufnahmen. Das hilft, alles zu vertuschen. Der Historiker Harry Waibel benennt das, was an diesem und den folgenden Tagen passiert: „Diese Pogrome, die in diesen Tagen im August 1975 stattgefunden haben, waren auch dadurch gekennzeichnet, dass zum ersten Mal in der DDR ein Wohnheim ausländischer Arbeiter gewalttätig angegriffen wurde. Diesen ersten Angriff folgten weitere 39 bis zum Ende der DDR.“ Das erste Nachkriegspogrom in Deutschland – ausgerechnet in der sozialistischen und antifaschistischen DDR.

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