Nach der Razzia gegen Klimaaktivisten wächst die Kritik am Vorgehen der Behörden: Beklagt wird eine Vorverurteilung, zudem steht die Frage einer politischen Motivation im Raum. Bayerns Grünen-Fraktionschefin Schulze fordert “unverzüglich Aufklärung”. Von Petr Jerabek Die Bilder von Polizisten mit Sturmhauben vor Wohnhäusern in mehreren Bundesländern gingen durch die Republik. 170 Beamte durchsuchten im Zuge von Ermittlungen gegen Aktivisten der “Letzten Generation” 15 Objekte in sieben Bundesländern. Der Vorwurf: “Bildung beziehungsweise Unterstützung einer kriminellen Vereinigung.” Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) verteidigte die Razzia, andere warfen den Ermittlungsbehörden dagegen eine öffentliche Vorverurteilung der Gruppierung vor, zudem wurden Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der Aktion laut, auch die Frage nach politischer Einflussnahme kam auf. Aktuelle Nachrichten und Hintergründe zur Landtagswahl 2023 in Bayern Die bayerische Grünen-Fraktionschefin Katharina Schulze sieht jetzt die Staatsregierung in der Verantwortung: Innenminister Joachim Herrmann und Justizminister Georg Eisenreich (beide CSU) müssten unverzüglich aufklären, wie es zu der “Vorverurteilung” kommen konnte “und ob die Ermittlungen auf politische Weisung erfolgt sind”. Das bayerische Justizministerium wies auf BR24-Anfrage Spekulationen über eine politische Einflussnahme zurück. “Eklatanter Verstoß gegen die Unschuldsvermutung” Im Zusammenhang mit der Beschlagnahmung der Internetseite der “Letzten Generation” hatten die Behörden bereits am Mittwochabend einen Fehler eingeräumt. Auf der Seite war vorübergehend der Hinweis von Generalstaatsanwaltschaft und Landeskriminalamt zu lesen: “Die Letzte Generation stellt eine kriminelle Vereinigung gemäß § 129 StGB dar! (Achtung: Spenden an die Letzte Generation stellen mithin ein strafbares Unterstützen der kriminellen Vereinigung dar!” Nach Kritik in sozialen Netzwerken wurden diese Sätze gelöscht, eine Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft München sprach von einem “missverständlichen” Hinweis. Grünen-Politikerin Schulze bezeichnete das Verhalten der Ermittler als eklatanten Verstoß gegen die Unschuldsvermutung und einen “Tabubruch”: “Die Ermittlungsbehörden dürfen nicht gleichzeitig die Richter sein.” Das mache den Rechtsstaat aus. Die Grünen fordern laut Schulze nun einen mündlichen Bericht im Innenausschuss des Bayerischen Landtags und reichen zudem eine schriftliche Anfrage an die Staatsregierung ein. “Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Rechtsstaatlichkeit darf nicht verspielt werden!”
via br: “Tabubruch”: Streit über Razzia bei “Letzter Generation”
siehe auch: „Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat“ … so lautet der Titel eines Aufsatzes von Habermas, erschienen 1983.1) Genau diesen Testfall erleben wir derzeit. Einzelne Gruppen der Klimabewegung demonstrieren nicht mehr ausschließlich oder versuchen, durch Petitionen Änderungen anzustoßen, sondern setzen Formen des sogenannten zivilen Ungehorsams ein, um auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen,2) nämlich darauf, dass die Regierung ihre Anstrengungen, den Klimawandel jedenfalls abzumildern, verstärken sollte. So besetzt und blockiert „Ende Gelände“ immer wieder in spektakulären Aktionen den Braunkohleabbau und „Sand im Getriebe“ die Automobilindustrie, während die „Letzte Generation“ neben Straßenblockaden (zur Frage nach deren strafrechtlicher Behandlung s. Bayer 2022 sowie Wenglarczyk 2022) und Installationen3) (z.B. Übergießen des Grundgesetz-Denkmals mit Öl) u.a. auch den Transport durch Pipelines durch ein „Abdrehen“ unterbrach. Am 24. Mai 2023 erfolgte eine bundesweite Durchsuchungsaktion gegen ausgewählte Mitglieder der Letzten Generation, ausgehend von der Generalstaatsanwaltschaft München. Laut Presseberichten wird gegen sieben Mitglieder der Letzten Generation wegen des Verdachts des Bildens einer kriminellen Vereinigung ermittelt. Neben den üblichen Beschlagnahmen wurden Konten eingefroren und die Website der Gruppierung abgeschaltet4). Zwischenzeitlich war auf einer Internetseite der Ermittlungsbehörden folgender Text hinterlegt, über dem die Logos des LKA Bayern und der Generalstaatsanwaltschaft München prangten: „Die Letzte Generation stellt eine kriminelle Vereinigung gemäß § 129 StGB dar! (Achtung: Spenden an die Letzte Generation stellen mithin ein strafbares Unterstützen der kriminellen Vereinigung dar!)“. Dieser Text wurde später wieder gelöscht und die Generalstaatsanwaltschaft München räumte ein, einen Fehler gemacht zu haben. Es war schließlich nicht durch ein Gericht rechtskräftig festgestellt worden, dass der Tatbestand des § 129 StGB verwirklicht wurde.5) Die zwischenzeitliche Formulierung verstieß gegen die verfassungsrechtlich geschützte Unschuldsvermutung. (…) Das Strafrecht ist das schärfste Schwert des Staates: Einzelne werden bestraft, in Gefängnisse gesteckt. Strafe ist dann unmittelbar fühlbar. Das Strafrecht ist eben wegen diesen schwersten Eingriffen, die damit untrennbar verbunden sind, immer das letzte Mittel. Es will von seinem Charakter her – so eine gängige Begründung – Rechtsgüter bewahren, z.B. also die Freiheit zur Willensentschließung und -betätigung. Und nun ist vor einer umgekehrten Instrumentalisierung zu warnen: Dazu, politische Botschaften nach dem Motto „Protest lohnt sich nicht“ auszusenden, dient das Strafrecht gerade nicht; harte Strafen gegen einzelne Aktivistinnen sind nicht primär politisches Kommunikationsmittel, sondern ein harter Grundrechtseingriff für jeden, die der davon betroffen ist.