Den letzten Krieg auf ukrainischem Boden hat Deutschland geführt. Die Wehrmacht mit ihrer Rückzugspolitik der »Verbrannten Erde« verübte dort Gewaltverbrechen, deren Fortwirken im jetzigen Krieg stärker sichtbar wird. Seit vergangenem Donnerstag greift Russland die Ukraine an. Seitdem ist für mich als Historiker gerade nicht mehr daran zu denken, an Texten zu arbeiten, die sich mit der NS-Besatzung und dem Rückzug der deutschen Wehrmacht aus der Zentralukraine beschäftigen. Das waren die letzten Kriegshandlungen in diesem Gebiet zwischen Sommer 1943 und Frühjahr 1944 gewesen, bis am 24. Februar 2022 Bomben auch in der zentralukrainischen Region Winnyzja und Schytomyr niedergingen, abgeworfen von russischen Streitkräften. (…) Obwohl er nun völlig neue Dimensionen annimmt, begann der Krieg für die Menschen in der Ukraine nicht 2022, sondern 2014. Auch in den zentralukrainischen Regionen hatte man tote Soldatinnen zu beklagen und spürte die vielfältigen Auswirkungen des Krieges in der Ostukraine, dessen Unterstützung durch die russische Führung dort niemals bezweifelt wurde. Als eine Interviewpartnerin 2015 am Ende eines langen Gespräches über die deutsche Besatzung weinte, weil sie Angst vor einem Einmarsch Putins hatte, hielt ich eine solche Option nicht für realistisch, doch bekam ich einen Eindruck von der tief sitzenden Furcht, die die Kriegshandlungen im Osten des Landes auslösten. (…) Kollektive Erfahrungen mit Krieg und Terror haben bei vielen Einwohner*innen der Zentralukraine transgenerationale Spuren hinterlassen, die auch in der Gegenwart des russischen Angriffskrieges bedeutsam sind. Dazu gehören die stalinistischen Zwangskollektivierungen, die staatlich evozierte Hungersnot 1932/33 und der Große Terror 1936/37. Dazu gehören auch die Erfahrungen mit der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkrieges und die damit zusammenhängenden, schier unfassbaren Zerstörungen und Verluste. Auch viele Überlebende des deutschen Kalküls der »verbrannten Erde« und der über 600 zerstörten Ortschaften in der Ukraine sind nun mit einem neuen Krieg konfrontiert. Oftmals hat es sehr lange gedauert, bis die Ortschaften wieder vollständig hergestellt waren, in denen diese Menschen bis heute leben und um die sie nun fürchten. Die Jewish Claims Conference fürchtet eine Re-Traumatisierung der 10 000 Holocaust-Überlebenden, von denen etwa die Hälfte zu Hause gepflegt wird. Dies gehört zu den Absurditäten einer Situation, in der Wladimir Putin behauptet, eine »militärische Spezialoperation« gegen einen angeblichen Genozid und für die »Denazifizierung« des Landes zu führen.