Putin versucht das postsowjetische Russland seit Jahren als ein zutiefst gekränktes Land, das vom „Westen“ wiederholt beleidigt und betrogen worden sei, darzustellen. Wie hat Putin mit dieser Affektrhetorik den Krieg vorbereitet? Vladimir Putins Reden zu Beginn der russi­schen Aggres­sion gegen die Ukraine haben die Welt geschockt. In zwei Fern­seh­an­spra­chen hat Putin seine Argu­men­ta­tion in einem emotio­nalen, aggres­siven, teil­weise wütenden Ton vorge­tragen: am 21. Februar über die russi­sche Aner­ken­nung der von Kyiv abtrün­nigen „Volks­re­pu­bliken“ Donezk und Luhansk und am 24. Februar am Anfang der soge­nannten „mili­tä­ri­schen Spezi­al­ope­ra­tion“. Nicht wenige haben daraufhin die Vermu­tung geäu­ßert, der russi­sche Präsi­dent sei verrückt geworden. Wie es um die mentale Gesund­heit Vladimir Putins steht, wissen wir nicht. Was wir aber mit Sicher­heit wissen: Putins aggres­sive Sprache der letzten Wochen ist keines­wegs neu, viel­mehr handelt es sich um eine radi­ka­li­sierte Rhetorik, die direkt auf die Affekte der Zuhörer:innen zielt. Diese Affekt­rhe­torik hat Putins Argu­men­ta­tion in Bezug auf die Ukrai­ne­frage von Anfang an charak­te­ri­siert. Das post­so­wje­ti­sche Russ­land model­liert Putin als einen Emoti­ons­raum, der vom Gefühl einer tiefen Krän­kung domi­niert wird. Vom Westen betrogen und gede­mü­tigt, sehne sich Russ­land nach Respekt und Aner­ken­nung seiner geopo­li­ti­schen Inter­essen, in denen die Ukraine eine Schlüs­sel­rolle spielt. Es lohnt sich daher, einen Blick auf diese beson­dere Form der Argu­men­ta­tion in Putins Rhetorik zu werfen und ihre Verschrän­kung mit anderen Argu­men­ta­ti­ons­stra­te­gien zu untersuchen. (…) Putins Rhetorik ist von zentraler Bedeu­tung für das Verständnis des Krieges in der Ukraine, der – und das wird oft vergessen – bereits 2014 begann. Putin hat diesen Krieg rheto­risch vorbe­reitet, begleitet und eska­lieren lassen. Aus seiner Argu­men­ta­tion ragen drei Ebenen beson­ders deut­lich heraus: Eine sach­lo­gi­sche Ebene, in deren Zentrum vor allem völker­recht­liche Argu­mente stehen; eine histo­ri­sche Ebene, die narra­tiver Natur ist und deshalb, rheto­risch gesehen, weniger zwin­gend als das ratio­nale Argu­men­tieren ist; und eine affekt­rhe­to­ri­sche Ebene, die heftige, akute Emotionen hervor­rufen will. (…) Viel ist über diesen histo­ri­schen Unsinn geschrieben worden, den Putin in seinen Reden und Texten über die Ukraine vertritt. Über­sehen worden ist aller­dings, dass die überzeugen-wollende Wirkung dieser histo­ri­schen Erzäh­lung, genauso wie jene der völker­recht­li­chen Argu­men­ta­tion, durch die Verschrän­kung mit einer bestimmten Affekt­rhe­torik gestei­gert wird. Die pene­trante ‚Bass­linie‘ in Putins Argu­men­ta­tion ist ein starkes Gefühl, und zwar das der Krän­kung. Diese Affekt­rhe­torik wird bereits in der Rede vom 18. März 2014 deut­lich formu­liert und seitdem perma­nent wieder­holt. Es lohnt sich also, auf diese Art von Rhetorik genauer einzu­gehen (im Folgenden zitiert nach der deut­schen Über­set­zung von Olga Radetz­kaja und Volker Weichsel, in: Osteu­ropa 64/5-6 [2014]). Putin model­liert hier das post­so­wje­ti­sche Russ­land als ein zutiefst gekränktes Land, das vom „Westen“ wieder­holt belei­digt und betrogen worden sei. In histo­ri­scher Perspek­tive handelt es sich dabei um die letzte Etappe eines alten, von west­li­chen Mächten beharr­lich voran­ge­trie­benen poli­ti­schen Programms der „Eindäm­mung“ Russ­lands. Den „Verlust“ der Krym nach dem Zerfall der Sowjet­union beschreibt Putin mit der emotio­nalen Meta­pher des „Raubs“ („Als die Krym plötz­lich in einem anderen Staat lag, war das für Russ­land so, als wäre es nicht nur bestohlen, sondern regel­recht ausge­raubt worden“), wobei er Russ­land als perso­ni­fi­ziertes Opfer dieser „Unge­rech­tig­keit“ erscheinen lässt.

via geschichtedergegenwart: Ernied­rigte und Belei­digte. Vladimir Putins Affektrhetorik