Kritik von Psychologen – „Wie ein PR-Coup“: Studie über angeblich gestiegene Zahl von Suizidversuchen bei Kindern lässt viele Fragen offen


Als Bundesfamilienministerin Anne Spiegel (Grüne) kürzlich im Deutschlandfunk (DLF) interviewt wurde, ging es gleich in der ersten Frage um ein heikles, emotionales Thema. Der Moderator sagte: „Eine aktuelle Studie der Uniklinik Essen belegt: Die Suizidversuche unter Jugendlichen haben sich am Ende des zweiten Corona-Lockdowns mehr als verdreifacht. Wie erklären Sie sich, Frau Ministerin, diese dramatische Entwicklung?“ Spiegel sagte daraufhin, das seien „wirklich alarmierende und erschreckende Zahlen“. Hinterfragt wurden die aber nicht. Die Studie lag der Redaktion auch gar nicht vor, wie der DLF auf Nachfrage von Übermedien einräumt. Der Moderator habe sich „auf die umfangreiche Berichterstattung darüber“ bezogen, sagt ein DLF-Sprecher. Es sei „nicht unüblich und nicht automatisch ein Makel“, Studien zu zitieren, die nicht von anderen Experten begutachtet wurden. (…) Da zur aktuellen Erhebung noch keine Veröffentlichung existiert, bleiben viele methodische Aspekte aber im Dunkeln. Schon in Dohna-Schwakes früherem Preprint zur Situation im ersten Lockdown ist die statistische Unsicherheit der Ergebnisse sehr hoch – wie es sich an sogenannten Konfidenzintervallen zeigt, die angeben, in welchem Bereich die Werte mit hoher Wahrscheinlichkeit liegen. Dass sich, wie er im DUP-Video sagt, die Zahl der Suizidversuche verringert hatte, konnte die damalige Studie also gar nicht sicher feststellen. Dohna-Schwake erklärt auf Nachfrage von Übermedien, er könne nichts dazu sagen, wie die Entwicklung der Suizidversuche zwischen den an der neuen Erhebung beteiligten Intensivstationen variiere. Insgesamt entspreche der Anstieg einem Faktor von 2,84, das Konfidenzintervall reiche von 2,29 bis 3,49. Und die Angabe von bis zu 500 Suizidversuchen in dem untersuchten Zeitraum basiert ja auf einer simplen Hochrechnung: Dohna-Schwake und sein Team schätzten lediglich, wie viele Suizidversuche zu Behandlungen auf allen Kinderintensivstationen geführt haben könnten. (…) Was das nächste Problem ist: Ist die Zunahme der Suizidversuche, von der Dohna-Schwake ausgeht, eine Folge der Pandemie bzw. der Maßnahmen? Seine Untersuchung erlaubt darüber keinerlei Rückschlüsse, auch nicht über die Entwicklung der Suizidversuche über einen längeren Zeitraum. (…) Kölch ist Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Er findet, es bedürfe umfassenderer Forschung, um Rückschlüsse zur Situation in der Pandemie ziehen zu können. Er jedenfalls habe keine Vervielfachung der Fälle feststellen können: „Generell brauchen wir deutschlandweit mehr Daten als die Zahlen aus der Umfrage der Uni Essen.“ Auch handele es sich um vergleichsweise kleine Zahlen, sagt Kölch, so dass Veränderungen nur vorsichtig interpretiert werden dürfen. Wichtig sei zudem die Zahl der vollendeten Suizide, die 2020 nicht gestiegen sei – und für 2021 gebe es noch keine Daten.

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