Deutsche schleppen traumatisierte Flüchtlinge in KZ-Gedenkstätten und rühmen sich dafür, wie toll sie mit ihrer Nazifamiliengeschichte umgehen. Mit dem deutschen Gedenken an den Holocaust stimmt etwas nicht. Ist es okay, das Vermögen vom deutschen Opa zu erben? Eine aktuelle Feuilleton-Debatte fragt nach der Nazidividende, von der bis heute viele weiße Deutsche profitieren. Dementsprechend können wir uns mit unzähligen Kontinuitäten aus den zwölf Jahren des nationalsozialistischen Terrors beschäftigen. Denn es handelt sich um Kontinuitäten, die bis heute sehr wirkmächtig sind. Die Frage stellt sich: Wie beschäftigen wir uns mit (den immanenten Nachwirkungen) der deutschen Geschichte? Und mit welchen Hintergedanken tun wir das? Es sind mehr beiläufige Beobachtungen, die mich langsam verstehen ließen, dass etwas nicht stimmt mit der deutschen Gedenkkultur: Weiße Deutsche lächeln in den sozialen Medien in die Kamera, während sie Stolpersteine putzen, weiße Deutsche schneiden sich aus der »Bild« eine gedruckte Papierkippa aus, setzen sie auf und denken, sie könnten damit Solidarität performen, weiße Deutsche erzählen von ihren Nazieltern und -Großeltern und sind irgendwie stolz darauf, dass sie »den Hass ein für alle Mal« überwunden haben sollen. (…) Und dennoch frage ich mich oft, ob es heute beim Bewahren, beim Leben der an sich wichtigen und richtigen deutschen Erinnerungskultur einen Hintergedanken gibt. Zum Beispiel bei dieser kleinen Geschichte: Eine Syrerin kam, schwer vom Krieg in ihrem Land traumatisiert, 2015 in Deutschland an. Kurze Zeit später saß sie in einem Deutschkurs. Die Frau erzählte mir, wie ihre Lehrerin nach wenigen Wochen auf die Idee kam, mit ihrer Klasse einen Ausflug in eine KZ-Gedenkstätte zu unternehmen. Die Syrerin wusste nicht, worauf sie sich da unvorbereitet einließ. In der Gedenkstätte, so berichtete sie mir, brach sie bei der Führung seelisch zusammen. Sie gab sich Mühe, sich nichts anmerken zu lassen, die weiß-deutsche Lehrerin sei einfach zu glücklich und stolz auf sich gewesen, dass sie ein paar unwissende Geflüchtete aufklären konnte. Das Trauma der geflüchteten Frau bekam dadurch aber ein schreckliches Update. Und sie fühlte sich in Deutschland, das für sie plötzlich zum Land der Täter wurde, nicht mehr sicher. Der Soziologe Y. Michal Bodemann hat einen praktischen Begriff erfunden: Erinnerungstheater. Demnach geht es vielen weißen Deutschen mit ihrer Erinnerungskultur nicht um die mahnend wirkende Erinnerung selbst, sondern um die eigene Wiedergutwerdung: Schaut her, ich bringe syrische Geflüchtete in die KZ-Gedenkstätte (um vielleicht damit im Freundeskreis anzugeben), ich putze Stolpersteine (weil ich Politiker*in bin, bald Wahlen sind und das gute Bilder gibt), ich setze in der Öffentlichkeit eine Kippa auf (obwohl ich mich bei der Beschneidungsdebatte oder beim Thema Schächten von Nutztieren gegen jüdische Praktiken gestellt habe) oder ich rede extensiv über meinen Opa, der bei der Waffen-SS dafür verantwortlich war, dass Menschen deportiert und vernichtet wurden, und das alles macht mich irgendwie zu einem besseren Menschen
via spiegel: Holocaustgedenken – Die deutsche Erinnerungsüberlegenheit