Der Mann, der den CDU-Politiker und Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke im Juni 2019 vor seinem Haus erschossen hat, ist zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden. Warum sie das Urteil für unzureichend hält, erklärt Caro Keller vom Netzwerk NSU-Watch im Dlf. Die Richter des Oberlandesgerichts Frankfurt stellten in ihrem Urteil am Donnerstag (28.01.2021) eine besondere Schwere der Schuld fest. Darum behielten sie sich vor, im Anschluss an die Gefängnisstrafe eine Sicherungsverwahrung für den Haupttäter zu verhängen. Von einem zweiten Vorwurf wurde der Hauptangeklagte allerdings freigesprochen: Er musste sich auch wegen versuchten Mordes an einem irakischen Flüchtling im Jahr 2016 verantworten. Der zweite Angeklagte im Fall Walter Lübcke erhielt eine Bewährungsstrafe. Das Oberlandesgericht verurteilte ihn wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz zu eineinhalb Jahren Haft, die für die Dauer von drei Jahren auf Bewährung ausgesetzt wird. Die beiden Verurteilten waren jahrelang in der rechtsextremen Szene aktiv. Caro Keller vom Netzwerk NSU-Watch, das rechtsextreme Strukturen in Deutschland untersucht und über sie informiert, zeigte sich im Deutschlandfunk empört über das Urteil. Sie kritisierte vor allem, dass das Gericht nicht auf die rechtsextremen Verbindungen der beiden Männer eingegangen sei und es so verpasst habe, den gesellschaftlichen Kontext der Tat und die Gefahr von rechtem Terror in Deutschland aufzuzeigen. Wörtlich sagte sie im Dlf: „Der Blick dieses Gerichts hat die Tat sehr, sehr klein gemacht“. (…)
Caro Keller: Dieses Urteil ist der Tat überhaupt nicht angemessen, dem Tatkomplex, dem Mordfall Lübcke überhaupt nicht angemessen. Zu diesem Urteil hätte gehört, dass der Mordversuch an Ahmed I. mitverurteilt wird. Dieser Mordversuch wurde hier auch verhandelt; dafür ist Stephan Ernst freigesprochen worden. Dieses Urteil ist ein Skandal und auch, dass Markus H. zur Beteiligung am Mord an Walter Lübcke hier freigesprochen wurde, nur wegen eines Waffendeliktes jetzt auf Bewährung verurteilt wurde, ein Jahr und sechs Monate, ist ebenfalls ein Skandal. Der Blick dieses Gerichts hat die Tat sehr, sehr klein gemacht. Dabei hätte der Tatkomplex viel größer betrachtet werden müssen, um diese Tat angemessen aufzuarbeiten und sie auch angemessen zu verurteilen.
„Dieses Milieu ist nicht aufgedeckt worden“ Schulz: Sie sagen, klein gemacht, aber wir sehen jetzt lebenslang. Das ist ja laut Strafgesetzbuch die Höchststrafe. Es gibt die Äußerungen des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster. Er spricht von einem klaren Zeichen gegen Rassismus und Rechtsextremismus. Sie vermissen diese Klarheit. Warum? Keller: Weil Stephan Ernst hier als Einzeltäter dargestellt wird, der er nicht ist. Stephan Ernst stammt aus einem rechten Milieu in Kassel, das jederzeit bereit ist, rechtsterroristische Taten zu unterstützen, wie auch beispielsweise den Mord des NSU an Halit Yozgat im Jahr 2006 in Kassel. Dieses Milieu ist nicht aufgedeckt worden und bleibt gefährlich. Solange Stephan Ernst als Einzeltäter dargestellt wird, wird sich über die Struktur keine Gedanken gemacht, und damit, wie schon gesagt, bleibt die Struktur gefährlich. Bei der Aufklärung von rechtem Terror muss es darum gehen, weitere Taten zu verhindern, anstatt ermutigende Signale in die Neonazi-Szene zu schicken, was heute wieder passiert ist.

via dlf: Lebenslange Haft für Mord an Walter Lübcke„Dieses Urteil ist der Tat überhaupt nicht angemessen“

siehe auch: Urteil im Lübcke-Prozess: Bundesanwaltschaft kündigt Revision an. Wegen des Mordes am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke ist Stephan Ernst am Donnerstag zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Die Bundesanwaltschaft will nun in Revision gehen. Grund dafür sind zwei Freisprüche. (…) Wie es ihnen nun geht, das lässt die Familie ihren Sprecher erklären, Dirk Metz, der wenige Minuten nach dem Urteil in einem zugigen Durchgang des Frankfurter Justizzentrums steht und sagt: „Das Urteil und seine Begründung sind für die Familie außerordentlich schmerzlich.“ Vor allem in Bezug auf den zweiten Angeklagten, Markus H., sei es „schwer zu verkraften“. (…) Das Oberlandesgericht Frankfurt/Main hat Stephan Ernst, der den tödlichen Schuss auf Walter Lübcke gestanden hatte, zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Außerdem hat es die besondere Schwere der Schuld festgestellt – die verhindert, dass er nach Ablauf von 15 Jahren freikommt – und die anschließende Sicherungsverwahrung vorbehalten. Die Richter verhängen damit die in Deutschland maximale Strafe. Markus H. allerdings sprechen sie vom Hauptvorwurf der Beihilfe zum Mord an Walter Lübcke frei – und verurteilen ihn nur wegen eines Waffendelikts zu einem Jahr und sechs Monaten auf Bewährung.