Die SPD war einmal die Partei der Arbeiter. Diese Rolle hat sie an die AfD abgegeben, sagt Soziologe Klaus Dörre. Aber sie könnte verlorene Wähler zurückholen. Hans Monath
Einst von marktliberalen Professoren gegründet, heute die Partei der Arbeiter: die AfD. Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Sein gerade erschienenes Buch zum Thema heißt “In der Warteschlange. Arbeiter*innen und die radikale Rechte” (Verlag Westfälisches Dampfboot). Herr Professor Dörre, Sie haben untersucht, warum die radikale Rechte Arbeiterinnen und Arbeiter gewinnt. Warum kann die SPD das nicht verhindern? Die SPD hat eine Schlüsselstellung, um die Arbeiterschaft und betrieblich Aktive von einer Abwanderung zur AfD abzuhalten, aber leider versagt sie bei dieser Aufgabe. Arbeiterinnen und Arbeiter waren einmal die Kernwählerschaft der SPD. Und sie hätte immer noch Möglichkeiten, viele von Ihnen an sich zu binden. Der Anteil der Arbeiterinnen und Arbeiter an der deutschen Gesellschaft wird immer geringer. Warum sind Sie als Gruppe so wichtig? Ihr Anteil an der Gesellschaft macht, je nach Definition, immer noch zwischen 20 und 33 Prozent aus. Und nur weil bestimmte Industriezweige sterben, verschwinden ja die Menschen nicht, die früher in ihnen gearbeitet haben. Und in manchen Teilen der Gesellschaft und der Wirtschaft verfügt diese Gruppe auch noch über Definitionsmacht. Warum spielen ihre Vorstellungen dann im nationalen Diskurs keine Rolle? In den Medien ist die Arbeiterschaft kaum vertreten, sie findet für ihre Themen keine Öffentlichkeit. Wenn von sozialen Problemen die Rede ist, wird das oft verengt auf Armut oder äußerste Prekarität. Dabei empfinden es Facharbeiter als riesiges Problem, dass wir zwar ein Jahrzehnt der Prosperität hinter uns haben, sie selbst aber abgehängt wurden und keinen Anteil an diesem Zuwachs an Wohlstand haben.Sie haben oft den Eindruck, dass für nichts Geld da ist, das Krankenhaus wird geschlossen, der Bus fährt nicht mehr, ländliche Gemeinden werden abgehängt. In der Eurokrise erleben sie dann, dass Geld für Banken da ist. Im Flüchtlingsherbst 2015 und danach erleben sie, dass Geld für Migranten da ist. Daraus entsteht ein Gefühl des Gekränktseins und des Zurückgestoßenwerdens, das halten sie für ungerecht. Warum bezieht die Arbeiterschaft kein Selbstbewusstsein aus dem Umstand, dass es anderen Gruppen schlechter geht? Weil sie diese oft als Konkurrenz empfindet. Vor allem aber, weil Selbstaufwertung auch über die Abwertung anderer funktioniert. Es gibt ein anschauliches Bild, das man sowohl bei linken wie bei rechten Arbeitern finden: Sie stehen am Fuße des Berges der Gerechtigkeit in einer Warteschlange und hoffen, dass es aufwärts geht. Ständig werden sie vertröstet. Sie haben das Empfinden, andere Gruppen werden bevorzugt, ziehen vorbei, ohne dass sie in die sozialen Sicherungssysteme eingezahlt und durch harte Arbeit zum gesellschaftlichen Wohlstand beigetragen haben. Das hinterlässt ein Gefühl tiefer Verletztheit. Dieses Gefühl beschränkt sich nicht nur auf die Industriearbeiterschaft und deren Familien. Sie finden es auch in Teilen der kleinen und mittleren Angestellten, gerade auch in den sozialen Berufen, die jetzt als systemrelevant erkannt werden. Was macht die Attraktivität der AfD für diese Gruppen aus? Die AfD macht die Unsichtbaren sichtbar. Das ist der entscheidende Punkt. Die AfD sagt, wir geben euch eure Stimme zurück. Sie gibt Arbeitern das Gefühl, in der Öffentlichkeit eine Stimme zu haben, der Maßstab für Normalität zu sein. Das ist der soziale Kitt für eine imaginäre Revolte, die sich gegen das Establishment richtet.
via tagessoiegel: Arbeiter und die radikale Rechte „Die AfD macht die Unsichtbaren sichtbar“