Am 18. November 2020 ging in Berlin für extreme Rechte ein lange gehegter Traum ein Stück weit in Erfüllung. Über Stunden stand der Neonazi-Multifunktionär Thomas Wulff in vorderer Front eines wütenden Mobs im Sprühregen eines Wasserwerfers und genoss sichtlich das Gefühl von Volksaufstand und Nationaler Revolution. Vollvermummte Hooligans mit Quarzhandschuhen und krawallerprobte Neonazis sangen neben Masken-Verweigerern mit Herz-Schildern im Wasserwerfer-Regen „Oh, wie ist das schön“. Sie feiern sich selbst, ihre „Widerstand“, ihre zahlen-starke Präsenz, ihre gemeinschaftliche Wut. Auch wenn sich nicht die erhofften 1,3 Millionen in der Nähe des Reichstags zusammen fanden, schafften es die anwesenden Zehntausenden die Polizeikräfte teils im Rückwärtsgang vor sich her zu treiben. Mehrere Tausend Rechte versuchten, Polizeiketten zu durchbrechen, bewarfen die Polizei mit Flaschen und Pyrotechnik. Sogar ein Konzertflügel – auf dem zuvor noch Westernhagens „Freiheit“ im Chor angestimmt wurde – diente an diesem Tag dazu, behelmte Polizei aus dem Weg zu räumen. Zu der Veranstaltung war mit „Tag X“-Rhetorik aufgerufen worden. Es hieß, jetzt ginge es um alles, man müsse sich bewaffnen und die Kinder zu Hause lassen. Aufrufe wie „Berlin muss brennen“ und Mordphantasien gegen allerlei Feinde wurden in sozialen Netzwerken geteilt. So entstand eine Atmosphäre, in der sich RechtsterroristInnen – und alle, die gerne welche sein würden – pudelwohl fühlten.
Personen wie Jörg Scholze – Mitglied des «Nordkreuz»-Netzwerks – trieb etwa die Vorstellung, dass es nun endlich los gehe, von Rostock nach Berlin. Auf jenen „Tag X“ bereitete sich das rechte Netzwerk aus Bundeswehrsoldaten und Spezialeinsatzkräften der Polizei schon lange aktiv vor. Die Mitglieder sammelten Waffen, Sprengstoff und Munition, legten Listen an und trainierten für den „Ernstfall“. Scholze war 2016 auf einem Treffen der Gruppe mit den «Nordkreuz» Mitgliedern Haik Jäger, Marko Gross und Jan-Hendrik Hammer. Letzterer soll auf dem Treffen eine Liste mit Linken gezeigt und gesagt haben diese sollen aus den Weg geräumt werden. Scholze ist als Oberfeldwebel viele Jahre Vorsitzender des Reservistenverbandes Fliegerhorst Laage gewesen. Auch steht Scholze mit dem Schießgelände „Baltic Shooters“ in Güstrow in Verbindung, wo er Beisitzer der Prüfungskommission ist. Der Name des Inhabers des Geländes, Frank Thiel, machte erst jüngst die Runde, da Lorenz Caffier von ihm eine Waffe erwarb. Caffier, zum Zeitpunkt des Waffenkaufs Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, trat nach Bekanntgabe dieses Vorfalls zurück. Auf den «Querdenken» Aufmärschen finden sich auch Personen aus dem UnterstützerInnen-Netzwerk des NSU ein. So waren am 18. November in Berlin Thomas „Ace“ Gerlach und Jens Bauer inmitten der Masse im angeregten Gespräch zu beobachten. Bauer, ehemals NPD-Funktionär, ist Vorsitzender der völkischen, extrem rechten «Artgemeinschaft – Germanische Glaubensgemeinschaft». Er hatte dem NSU-Unterstützer Ralf Wohlleben auf seinem Hof in Sachsen-Anhalt eine Bleibe versorgt, nach dem dieser aus der Untersuchungshaft entlassen wurde. Wohlleben besorgte den RechtsterroristInnen Gelder und die Tatwaffe, mit der der NSU bis 2011 neun Menschen erschossen hatte. Bauers „Artgemeinschaft“ versteht sich als neo-nationalsozialistische Elite und lockte schon vor seiner Zeit so manche RechtsterroristInnen an. So nahm das NSU-Kernmitglied Beate Zschäpe 1997 an einer Veranstaltung der «Artgemeinschaft» teil. Auch die Brüder Maik und André Eminger waren nachweislich 2004 und 2005 Teil der Treffen des extrem rechten Bundes. Andrè Eminger unterstützte das NSU-Trio 14 Jahre lang. Als sich am 4. November 2011 der NSU selbstenttarnte floh er zu seinem Bruder Maik ins bandenburgische Grabow, wo er 20 Tage später verhaftet wurde.
via exif-recherche_ „Tag X“-Romantik aus dem Bilderbuch – „Corona-Proteste“ & rechter Terror