Die Demo von Berlin lief bestens für die Rechtsextremen. Niemand grenzte sie aus, es entstanden sogar neue Allianzen. Und trotzdem wird das Problem kleingeredet. Es gibt jetzt die Bilder, von denen die deutschen Rechtsextremen seit Jahren träumen: Tätowierte Neonazis auf den Stufen des Bundestages, Reichsflaggen, Gebrüll, überforderte Polizisten. Rechte YouTuber sitzen wahrscheinlich längst an ihren Computern und schnipseln daraus Clips mit bescheuert heroischer Hintergrundmusik, um unter ihren Followern das Gefühl zu schüren, der Staat sei am Ende und die Revolution nicht mehr weit. Dass jeder – auch du! – dabei sein müsse, um mitzuerleben, was jetzt passieren werde. Für die Rechten sind die Bilder von gestern pures Gold. Das noch Beklemmendere aber wird in diesen Videos nur am Rand zu sehen sein. Dass die Rechtsradikalen unter den Demonstranten zu keinem Zeitpunkt allein waren. Sowohl abstrakt als auch konkret. Sie waren der kleinere Teil einer bizarren Allianz mit friedensbewegtem Bürgertum, großstädtischer Parkhipness, impfskeptischer Badenwürttembergkeit. Sie bewegten sich unter den anderen Demonstranten wie Fische im Wasser. Xavier Naidoo aus der Boombox, Softshelljacken, Hippiegrinsen, Nazitattoos. Niemand wurde ausgegrenzt, weil er oder sie sich als Arier bezeichnete, im Gegenteil, viele von ihnen wurden wohl zum ersten Mal in ihrem Leben als Teil einer “bunten Masse” beschrieben. (…) Das Ergebnis ist jedenfalls: Außerhalb des Lagers der Linken und der Betroffenen werden die rechtsextreme Gefahr und der Rassismus in Deutschland immer wieder kleingeredet und mit Gegennarrativen gekontert. Darauf können die Rechtsextremen mittlerweile fest zählen. So sehr, dass es zu einem harten politischen Wirkfaktor geworden ist. So auch dieses Mal wieder. Etwa eine Woche vor der Demo war klar, dass die rechtsextreme Szene auf allen Kanälen zur Teilnahme aufforderte. Der große Sturm aber brach los, nachdem der Berliner Innensenator die Demo aus epidemiologischen Gründen verboten und dabei auch seiner Überzeugung Ausdruck verliehen hatte, dass Rechtsextremisten und Corona-Leugner in Berlin keine Plattform haben sollten. Da wurde plötzlich der Rechtsstaat und das Grundgesetz von Journalisten und Politikern mit großer Schärfe verteidigt. Die epidemiologische Gefahr oder die im Nachhinein bestätigten Sicherheitsbedenken, dass die Polizei mit Rechtsextremen aus dem ganzen Bundesgebiet überfordert sein könnte: Randthema. (…) Wenn es eine Lehre gibt, die man bisher aus dieser Zeit ziehen kann, dann vielleicht die: Man darf rechte Erzählungen nicht stark machen. Nein, die Linken bedrohen nicht die Grundrechte. Nein, es gibt keine verborgene Diktatur. Im Gegenteil, von so etwas träumen die Verschwörer und Rechtsextremen, die mit Hilfe weitverbreiteter Naivität ihnen gegenüber nicht nur Einfluss gewinnen, sondern auch mittlerweile viel Geld. Für einen Bundesinnenminister würde das bedeuten, nach einem solchen Tag nicht von “Extremisten und Chaoten” zu sprechen, sondern von Rechtsextremen. Und für Journalisten, die sich liberal oder konservativ nennen, nicht einfach eine Verbindung herzustellen zwischen Neonazis am Reichstag und Umweltaktivistinnen. Es geht um eine Aufrichtigkeit, um die Bereitschaft, nicht an rechtsradikalen Narrativen zu saugen, auch wenn es einem kurzfristige Vorteile verspricht. Aber wahrscheinlich wird bald wieder jemand argumentieren, solche Schärfe trüge dazu bei, die Vernünftigen unter den Unvernünftigen in die Arme der Radikalen zu treiben. Andere werden sagen, diese obsessive Befassung mit Rechtsextremisten schaffe doch erst das Problem, das es zu bekämpfen glaube. Und dann wird es wieder so weitergehen, während die extreme Rechte sich im Hintergrund weiter vernetzt, sich weiter Verbündete schafft, in ihrem Streben, die parlamentarische Demokratie zu stürzen oder in eine orbaneske Autokratie zu verwandeln. Bis wir über die nächsten “Chaoten” oder “Einzeltäter” staunen.

via zeit: Rechtsextremismus: Wenn es doch nur Chaoten wären