Verübt Russland in der Ukraine einen Völkermord? Folgt man der Auffassung des Raoul Wallenberg Centre for Human Rights, ist das mit hoher Wahrscheinlichkeit der Fall. Alle Varianten des Völkermords sehen die Menschenrechtler als erfüllt. Die vom ehemaligen kanadischen Justizminister und Menschenrechtsanwalt Irwin Cotler gegründete und in Montreal ansässige Nichtregierungsorganisation Raoul Wallenberg Centre for Human Rights (RWCHR) hatte bereits im Mai 2022 zusammen mit dem Newlines Institute for Strategy and Policy (Washington D.C.) eine erste Studie zur Genozidalität des russischen Krieges gegen die Ukraine veröffentlicht. Die parteiunabhängige US-Denkfabrik sowie die kanadische Menschenrechtsorganisation sahen bereits damals hinreichende Gründe für die Annahme, dass das russische Regime direkt und öffentlich zum Völkermord aufruft, und zwar insbesondere durch die öffentlichkeitswirksame Verwendung von Begriffen wie “Entnazifizierung”, “Entsatanisierung” und die Darstellung der Ukrainer als existenzielle Bedrohung für Russland, um ihre Vernichtung als anerkannte nationale Gruppe zu rechtfertigen. Die nun unter Federführung von Professor Kristina Hook (Kennesaw State University) entstandene aktuelle Studie basiert wie bereits der im Mai 2022 vorgelegte Bericht, als dessen Fortsetzung sie sich versteht, weitgehend auf frei zugänglichem Material, das die Bearbeiter der Untersuchung laut eigener Darstellung verifiziert haben. Es kann über die Fußnoten im Bericht eingesehen und somit auch unabhängig überprüft werden. Die aktuelle Studie geht davon aus, dass die Russische Föderation im Zusammenhang mit ihrem seit dem 24. Februar 2022 andauernden Großangriff auf die Ukraine nicht lediglich zum Genozid aufruft. Vielmehr bestünden auch triftige Gründe für die Annahme, dass Russland für die Begehung von Völkermord an der ukrainischen Volksgruppe verantwortlich sei. Studie: Muster von Gräueltaten Der Tatbestand des Völkermords ist völkerstrafrechtlich in der UN-Völkermordkonvention vom 9. Dezember 1948 geregelt und für Deutschland durch § 6 VStGB auch in nationales Recht übernommen worden. Er kennt insgesamt fünf Tatbestandsalternativen, die in der Absicht vorgenommen werden müssen, eine geschützte Gruppe – in diesem Fall die Ukrainerinnen und Ukrainer als nationale Gruppe – als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Wegen Zweifeln an der erforderlichen Zerstörungsabsicht lehnte es der Generalbundesanwalt ab, Ermittlungen wegen Völkermords in der Ukraine einzuleiten (LTO berichtete). Demgegenüber hat das Joint Investigation Team (JIT) der EU-Justizagentur Eurojust im April dieses Jahres mitgeteilt, auch zum Genozidvorwurf gegen Russland zu ermitteln. Die aktuelle Studie des RWCHR und des Newlines Institute sieht nun ein Muster von Gräueltaten, aus dem auf die Absicht der russischen Führung geschlossen werden könne, die Ukrainerinnen und Ukrainer als nationale Gruppe teilweise zu vernichten. Das Völkermordgeschehen in den besetzten Teilen der Ukraine habe sich zudem seit Februar 2022 intensiviert und eskaliere weiter. Im Einzelnen sieht der Bericht erhebliche Anhaltspunkte für sämtliche Tatbestandsvarianten des Völkermords, die in der UN-Völkermordkonvention geregelt sind.
