Im „NSU 2.0“-Prozess fordert die Nebenklage einen Freispruch des Angeklagten für das erste Drohschreiben. Dieses soll ein Polizist verschickt haben. Es ist ein überraschender Vorstoß. Im Prozess zur rechtsextremen NSU 2.0-Drohserie, der seit einem Monat vor dem Oberlandesgericht Frankfurt/Main läuft, fordert die Betroffene Seda Başay-Yıldız einen Teilfreispruch für den Angeklagten Alexander M. Stattdessen soll ein Frankfurter Polizist an der Drohserie beteiligt gewesen sein. Konkret geht es um das erste NSU 2.0-Drohschreiben, das die NSU-Opferanwältin Başay-Yıldız per Fax erhielt, am 2. August 2018 um 15.41 Uhr. Gedroht wurde ihr darin, ihre Tochter zu „schlachten“ – samt Nennung ihrer Privatadresse, die öffentlich nicht bekannt war. Eben jene Adresse, sowie weitere Privatdaten von Başay-Yıldız, waren anderthalb Stunden zuvor auf dem 1. Polizeirevier Frankfurt/Main abgerufen worden. Im Prozess forderte nun Antonia von der Behrens, die Anwältin von Başay-Yıldız, den Angeklagten Alexander M. für dieses erste Drohfax freizusprechen. Denn alles spreche dafür, dass nicht er, sondern der Frankfurter Polizist Johannes S. für dieses verantwortlich sei. Es gebe dafür eine „Fülle von Indizien“, erklärte von der Behrens. Für alle weiteren 82 Schreiben der Drohserie, die ab Dezember 2018 bis März 2021 von einer Yandex-Emailadresse verschickt wurden, sei aber Alexander M. verantwortlich. In einem langen Beweisantrag trug von der Behrens die Indizien gegen Polizist Johannes S. vor. So sei bereits der Abruf der Daten von Başay-Yıldız auf dem Frankfurter Polizeirevier auffällig. Fast sechs Minuten lang und mit 17 Eingaben wurde damals auf drei Datenbanken nach Informationen zu Başay-Yıldız gesucht – zu ihrer Adresse, dort gemeldeten Personen und deren Daten, zu möglichen Straftaten oder gemeldeten Fahrzeugen. Ein sehr untypischer Vorgang, den bisher keiner der Polizeibeamten erklärten konnte, erinnerte von der Behrens. (…) Zudem fanden sich bezeichnende Google-Suchen auf seinem Handy. So war dort explizit nach „Yildiz in Frankfurt“ und „Rechtsanwältin“ gesucht worden. Und Johannes S. hatte sich zuvor auch über Sami A. informiert, einen Islamisten, der im Sommer 2018 zu Unrecht abgeschoben wurde und den Başay-Yıldız vertrat. Der Fall machte Schlagzeilen – und wurde im ersten Drohfax an Başay-Yıldız erwähnt. Der Tod ihrer Tochter werde „die Vergeltung“ für Başay-Yıldızs Einsatz für Sami A., hieß es dort. Von der Behrens verwies auch auf einen früheren Chatbeitrag von Johannes S., in dem dieser schrieb, er habe auch den Islamisten Bilal G. „gestalked“ – den Başay-Yıldız ebenfalls vertrat. Zudem steht Johannes S. schon länger unter Rechtsextremismusverdacht. Ermittler fanden Fotos, die ihn mit Hitlergruß zeigten. Auch in einer Polizei-Chatgruppe namens „Itiotentreff“ teilte Johannes S. rassistische Beiträge. Bis heute wird deshalb gegen ihn und die anderen Beamten ermittelt. In einem weiteren Chat von Johannes S. schrieb ihm ein Chatpartner: „Ich reiß dir den Kopf ab und scheiß dir in den Hals.“ Ein Filmzitat – jedoch eines, das genau so auch in NSU 2.0-Drohschreiben auftauchte. Noch ein Indiz: Başay-Yıldız erhielt das Drohfax über einen Onlineanbieter, auf den zuvor mit einer Tor-Verschlüsselung zugegriffen wurde. Johannes S. kannte sich damit aus. Auf einer Polizeischule hielt er schon 2014 einen Vortrag zur Nutzung von Tor-Browsern.

via taz: Rechtsextreme „NSU 2.0“-Drohserie – :Versendete Polizist erstes Drohfax?