Der neue Prozess um den Überfall auf eine Kirmesgesellschaft in Thüringen endet mit Haftstrafen auf Bewährung. Zugrunde liegen Absprachen mit den rechtsradikalen Angeklagten. Das Gericht reklamiert das Urteil als Erfolg für den Rechtsstaat. Als Sabine Rathemacher das Urteil im Ballstädt-Prozess verkündet, spricht sie ruhig und langsam. Die Große Strafkammer des Landgerichts Erfurt hat gegen neun Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung Haftstrafen von bis zu einem Jahr und zehn Monaten verhängt – ausgesetzt zur Bewährung. Rathemacher informiert die Männer nüchtern über Auflagen. Es ist der klassische Verlauf am Tag einer Urteilsverkündung. Erst die Formalien, dann die ausführliche Würdigung des Falls. Doch in diesem Moment scheint es so, als wolle die Vorsitzende Richterin einem Verfahren, um das zuletzt emotional gestritten wurde, die juristische Sachlichkeit zurückgeben. So viel vorab: Es wird ihr nicht gelingen.
Vor sieben Jahren überfielen vermummte Rechtsextreme in dem thüringischen Dorf Ballstädt (Landkreis Gotha) eine Kirmesgesellschaft. 2017 verurteilte das Landgericht Erfurt zehn Männer wegen schwerer Körperverletzung zu Haftstrafen von bis zu drei Jahren und sechs Monaten – ohne Bewährung. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil Anfang 2020 auf, weil die Beweise für eine Verurteilung nicht ausgereicht hätten. Um das Verfahren nicht länger hinauszuzögern, handelte die Staatsanwaltschaft mit den Angeklagten einen Deal aus: Geständnisse gegen geringe Haft- und Bewährungsstrafen. Ein Deal, dem das Landgericht Erfurt folgen würde. Das war schon klar, als es Mitte Mai in einem dafür angemieteten Kongresszentrum das Verfahren neu zu verhandeln begann. Es gab Proteste, die Initiative “Omas gegen rechts” sammelte Hunderttausende Unterschriften, an jedem Verhandlungstag hängten Aktivisten vor der Erfurter Messe Transparente auf. “Kein Deal mit Nazis”, stand auf einem.
Die Anwälte kritisieren ein “abgekartetes Spiel”. Absprachen zwischen Angeklagten und Staatsanwaltschaft sind nicht ungewöhnlich. Was den Ballstädt-Deal aus Sicht von Opferverbänden und Nebenklageanwälten skandalös macht, ist die Tatsache, dass gegen den Hauptangeklagten Thomas Wagner bereits ein weiteres Verfahren läuft. Wagner war bis zu seiner Festnahme in diesem Frühjahr Chef der rechtsextremen Rockergruppe “Turonen”, als deren Treff das sogenannte Gelbe Haus in Ballstädt galt. Auch der Angeklagte Marcus R. gehört der Neonazi-Szene an, er ist mehrfach vorbestraft, unter anderem wegen Körperverletzung. Sein Bewährungshelfer attestierte ihm während des Verfahrens eine “nicht ungünstige” Sozialprognose. Das war, bevor er wegen eines weiteren Verfahrens in Untersuchungshaft kam. Aus Protest gegen den Deal weigerten sich die Nebenklageanwälte zu plädieren. Stattdessen verlasen sie in dem provisorischen Gerichtssaal eine Mitteilung, in der sie Gericht und Staatsanwaltschaft ein “abgekartetes Spiel” vorwarfen. Es sei ihnen darum gegangen, die Angelegenheit “schnell vom Tisch zu bekommen”.
via sz: Urteil im Ballstädt-Prozess – Ein Deal mit Neonazis
siehe auch: Prozess in Erfurt – Triumph der Neonazis. Rechtsextreme überfielen eine Kirmesgesellschaft im thüringischen Ballstädt. Sieben Jahre später sollen sie nach Absprachen Bewährungsstrafen bekommen. Betroffene fürchten eine verheerende Signalwirkung. Maskiert stürmten ein Dutzend Neonazis den Saal des Kulturzentrums in Ballstädt, einem Ort nördlich von Gotha. Wie von Sinnen prügelten sie ein auf Helfer der alljährlichen Kirmes, die dort feierten. Dann rannten die Gewalttäter fort, zehn Personen ließen sie teils schwerverletzt zurück. Der Überfall in der Dunkelheit dauerte keine drei Minuten. Der Staatsanwalt wird später von einem »Rollkommando« sprechen. Es war die Nacht zum 9. Februar 2014. Elf Schläger, bekannte Thüringer Rechtsextremisten, verurteilte das Landgericht Erfurt danach zu Haftstrafen bis zu dreieinhalb Jahren. Rechtskräftig wurde das Urteil nicht, der Bundesgerichtshof hob die Entscheidung auf. So begann im Mai der Prozess erneut vor einer anderen Kammer. Die wird am Montag – mehr als sieben Jahre nach der Attacke – neun der Schläger wegen gefährlicher Körperverletzung nun zu Bewährungsstrafen verurteilen, nachdem sie ihre Beteiligung an dem Angriff gestanden haben. Gegen zwei weitere Angeklagte wurde das Verfahren eingestellt, sie müssen 6000 bzw. 3000 Euro Geldauflage zahlen.