Erklärungsbedürftige Statistik – Lücken und Tücken bei “Politisch motivierter Kriminalität”

Anfang November hatte Innenminister Roland Wöller (CDU) später als üblich den sächsischen Verfassungsschutzbericht vorgestellt. Demnach haben sich linksextremistische Straftaten 2019 gegenüber dem Vorjahr verdoppelt. MDR SACHSEN hatte bei der Pressekonferenz gefragt, welchen Anteil beschädigte Wahlplakate an dieser ungewöhnlichen Steigerung haben. Die damals offenbar unbekannten Zahlen liegen uns mittlerweile exklusiv vor. Während in der “Polizeilichen Kriminalstatistik” (PKS) Fälle erst nach Abschluss der Ermittlungen erfasst werden, ist die “Politisch motivierte Kriminalität” (PMK) eine sogenannte Eingangsstatistik. Straftaten werden also zumeist unmittelbar nach Bekanntwerden von der Polizei dahin gehend bewertet, ob sie politisch motiviert sein könnten oder nicht. Der Kriminologe Prof. Tobias Singelnstein von der Ruhr-Universität Bochum sieht hier die Gefahr von Fehleinschätzungen. Bei jedem Delikt werde die Einschätzung darüber, ob es sich um eine politisch motivierte Straftat handelt, von den Einsatzkräften vor Ort getroffen. Diese seien in der Regel keine Staatsschutzbeamten, sagt Singelnstein (…) Während die Einstufung einer “politischen Motivation” beispielsweise von Gewaltdelikten also stark von den Beamtinnen oder Beamten abhängt, die den Fall aufnehmen, ist die Lage bei Wahlplakaten seit Anfang 2019 halbwegs klar geregelt. Eine Sachbeschädigung an oder der Diebstahl von Wahlplakaten der im Bundestag vertretenen Parteien ist grundsätzlich nicht nur politisch motiviert, sondern auch gleich “extremistisch”. Wahlplakate werden seitdem als eigenes “Angriffsziel” definiert. Der Haken: Die Polizei muss eine Einschätzung vornehmen, ob diese Sachbeschädigung wohl linksmotiviert war, politisch rechts oder “nicht zuzuordnen”. Bundesweit wurden im vergangenen Jahr 83,3 Prozent der betroffenen AfD-Plakate als linksextremistische Delikte eingestuft, aber nur 44,9 Prozent der beschädigten Plakate der Partei Die Linke als rechtsextremistische Straftaten. Bei den anderen Parteien überwiegt klar der Vermerk “nicht zuzuordnen”. Auffällig ist, dass bundesweit jede dritte “linksmotivierte Plakatbeschädigung” (34,6 Prozent) in Sachsen registriert wurde. Das geht aus den Zahlen des Bundeskriminalamts (BKA) und des Landeskriminalamts Sachsen hervor, die MDR SACHSEN nun vorliegen. Demnach geht die von Innenminister Roland Wöller (CDU) genannte Verdopplung linksextremistischer Straftaten fast vollständig auf das neue “Angriffsziel Wahlplakate” zurück, das es im Vorjahr noch nicht gab. 2018 fanden in Sachsen auch keine größeren Wahlen statt (2019: Kommunalwahl, Europawahl, Landtagswahl).

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