Schwarze Bürger*innen müssen an der Mohrenstraße aussteigen. Auch das „Zigeunerschnitzel“ steht für einen Kulturkampf. Ein Gastbeitrag von Stephan Anpalagan. In Deutschland sind rassistische Feindbilder im kollektiven Bewusstsein verwurzelt. Sei es das „Zigeunerschnitzel“ oder die „Mohrenapotheke“. Stephan Anpalgan kritisiert auch, dass der Porajmos wenigen Menschen ein Begriff ist. Die allermeisten Menschen in Deutschland werden dieses Wort nicht kennen. Kaum jemand weiß, was dieser Begriff mit dem „Abschnitt B II e“ zu tun hat oder warum Menschen in ebenjenem Abschnitt als „Z“ gekennzeichnet wurden. Die Tatsache, dass wir im Jahr 2020 noch immer den Porajmos nicht kennen, ihn nicht einordnen oder unseren Kindern erklären können, ist eine Tragödie, eine bodenlose Frechheit. Und doch ist ebenjenes gesamtgesellschaftliche Versagen auch ein glasklares Spiegelbild für unseren Umgang mit den Opfern deren Täter wir sind. Deren Täter wir waren. Deren Familien unsere Familien auf dem Gewissen haben. Der Porajmos bezeichnet den Versuch der vollständigen Vernichtung aller europäischen Sinti und Roma. Der „Abschnitt B II e“ ist jener Abschnitt im KZ Auschwitz-Birkenau, der als „Zigeunerlager“ errichtet und zur Ermordung der Sinti und Roma in Betrieb genommen wurde. Das „Z“ stand für die Zugehörigkeit zu dieser einen Volksgruppe, die im Dritten Reich den Tod und in der Bundesrepublik Deutschland noch immer Ungerechtigkeit, Rassismus und Diskriminierung bedeutet: „Zigeuner“. Der Zentralrat Deutscher Sinti & Roma schreibt über dieses Wort: „Zigeuner“ ist eine von Klischees überlagerte Fremdbezeichnung der Mehrheitsgesellschaft, die von den meisten Angehörigen der Minderheit als diskriminierend abgelehnt wird. Die Bezeichnung „Zigeuner“ ist untrennbar verbunden mit rassistischen Zuschreibungen, die sich, über Jahrhunderte reproduziert, zu einem geschlossenen und aggressiven Feindbild verdichtet haben, das tief im kollektiven Bewusstsein verwurzelt ist.“ Das verwundert, ist der Begriff „Zigeuner“ in der deutschen Öffentlichkeit doch fest verwurzelt.
Fußballfans besingen die gegnerische Mannschaft als „Zigeunerpack“, Staatsanwaltschaften verschicken offizielle Briefe an Personen, die sie im Adressfeld als Zigeuner bezeichnen – und dann ist da noch dieses Schnitzel.
Rassismus in der Sprache: Hersteller wollen „Zigeunerschnitzel“ nicht unbennen Als das „Forum Sinti und Roma“ mehrere Lebensmittelhersteller darum bat ihre Saucen, die sie als „Zigeunersauce“ verkauften, umzubenennen, weil dieser Begriff rassistisch und diskriminierend sei, antworteten die Hersteller, „dass sie jede Form von Diskriminierung ablehnten, eine Umbenennung aufgrund der langen Tradition aber nicht infrage käme“. Die lange Tradition der „Zigeunersauce“. Wer kennt sie nicht? Das „Zigeunerschnitzel“ steht mittlerweile gar für einen offenen Kulturkampf zwischen jenen, die nicht fassen können, dass wir noch immer eine zutiefst rassistische Sprache im öffentlichen Raum kultivieren und jenen, die sich gegen den Verlust ihrer jahrzehntelangen Deutungshoheit dadurch wehren, dass sie wirre Gedanken in wütende Worte gießen und Wutbücher an Wutbürger verkaufen. (…) Wie unmenschlich mutet unser Umgang mit schwarzen Bürger*innen an, wenn diese Tag für Tag an der U-Bahnhaltestelle „Mohrenstraße“ aussteigen oder im Supermarkt an „Negerküssen“ vorbeilaufen müssen, wo sie jedes Mal an die Sklaverei erinnert werden, an die eigenen Ururgroßeltern, die mit einer Nilpferdpeitsche halb totgeschlagen wurden und deren Kindern man Hände und Füße abgehackt hat, weil sie ihren Tagessoll an Kautschuk nicht eingesammelt haben. Wie hirnverbrannt muss eine gesamte Gesellschaft sein, wenn man Überlebenden und Angehörigen der in Auschwitz Ermordeten sagt, dass man den rassistisch-faschistischen Begriff des „Zigeuners“ nicht von der Speisekarte tilgen könne, weil das gottverdammte Paprikaschnitzel eine lange und nicht mehr zu ändernde Tradition darstelle. Alte weiße Männer, die in den vergangenen 1000 Jahren in keiner Epoche hätten leben können, in der nicht wiederum alte weiße Männer die Macht, den Wohlstand und das Sagen hatten, möchten nicht verstehen, dass Menschen, die sich tagtäglich als „Kümmeltürken“, „Ziegenficker“, „Kanaken“, „Zigeuner“ und „Neger“ bezeichnen lassen müssen, es nun endgültig satt sind ausgerechnet in einer Mohrenapotheke ihre Medikamente zu kaufen.

via fr: Vom „Zigeunerschnitzel“ bis zur „Mohrenstraße“: Rassismus ist eine Tradition, mit der gebrochen werden muss