Die alte Dame schweigt – auch am 37. Sitzungstag, als Staatsanwältin Maxi Wantzen ihr Plädoyer verliest. Irmgard F., geboren 1925, muss sich seit Oktober 2021 in der norddeutschen Kleinstadt Itzehoe vor der Jugendkammer des Landgerichts verantworten: wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen. Die deutsche Staatsanwaltschaft legt ihr zur Last, “in ihrer Funktion als Stenotypistin und Schreibkraft in der Lagerkommandantur des ehemaligen Konzentrationslagers Stutthof, zwischen Juni 1943 und April 1945 den Verantwortlichen des Lagers bei der systematischen Tötung von dort Inhaftierten Hilfe geleistet zu haben”. Der Prozess gegen Irmgard F. ist der voraussichtlich letzte NS-Prozess – das mediale Interesse daran hält sich trotzdem in Grenzen. Mehr als 110.000 Menschen haben die Nazis nach Stutthof verbracht. Wenigstens 65.000 überlebten diese Enklave des Mordens an der Baltischen See nicht. SS-Chef Heinrich Himmler stufte Stutthof Anfang 1942 zum KZ hoch. (…) Der Prozess in Itzehoe läuft schleppend. Der vorsitzende Richter Dominik Groß erscheint oft überfordert. Bisher hat das Gericht nicht einmal die wichtigste Expertin einbestellt, die international anerkannte Historikerin Danuta Drywa: Sie arbeitet seit 44 Jahren in Stutthof, leitet das Archiv, hat zum fraglichen Zeitraum über “Jews in Stutthof” intensiv veröffentlicht, eine Ausstellung konzipiert. Stattdessen verlas – an 17 Verhandlungstagen – ein deutscher Historiker überwiegend Quellen von Tätern – aus dem Archiv. Die “Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg hatte bereits 2015/2016 Vorermittlungen angestoßen, die dazu abgeordnete Richterin Henriette Freudenberg stellte vor Ort schnell fest: Eine Unterschrift der Schreibkraft des Kommandanten ist nicht zu finden. Außer Täterdokumenten hat sie ebenso Zeugnisse Überlebender aus dem Archiv einbezogen, die das Grauen schildern. Die Richterin wurde allerdings in Itzehoe erst in der 32. Sitzung befragt. Wissenschaftliche Gutachten zu Folgen des Terrors, zum Trauma der Überlebenden, sind gar nicht eingeplant. Unendlicher Schmerz Ab Mitte 1943, F. ist bereits Schreibkraft von Lagerkommandant Hoppe, kommen erste größere Deportationen aus anderen Lagern. “Schlimmer als Auschwitz”, dieser Satz findet sich häufiger in Quellen, aber auch in Aussagen von Josef Salomonovic, der heute in Wien lebt.
via standard: LETZTER NS-PROZESS Ist die 97-jährige Irmgard F. mitschuldig am Tod von 11.000 Menschen?