Polizei und Verfassungsschutz bekommen immer mehr Befugnisse, diese Entwicklung macht auch vor dem Klassenzimmer keinen Halt. Doch was können Lehrkräfte tun? Ein Interview. In der Schule sollen Kinder sich ausprobieren, lernen und frei entfalten. Doch angesichts der permanenten Angst vor terroristischen Anschlägen werden die Überwachungsbefugnisse der deutschen Sicherheitsbehörden auch auf Minderjährige ausgeweitet. So stehen Lehrkräfte heute vor der Frage, was sie eigentlich tun müssen und können, wenn sie vermuten, dass eine Schülerin sich radikalisiert. Kaja Deller und Konstantin Welker haben sich dieser Frage gewidmet und für das Deutsche Institut für Menschenrechte den Schutz der Privatsphäre von Kindern bei Radikalisierungsverdacht untersucht. Beide studieren Rechtswissenschaft und sind Teil der Humboldt-Law-Clinic für Grund und Menschenrechte. netzpolitik.org: Ihr habt eine Rechtsanalyse zur Privatsphäre von Kindern geschrieben, die unter dem Verdacht der Radikalisierung stehen. Was war eure Erfahrung? Kaja Deller: Der Begriff Radikalisierung ist wie ein dicker Stein, immer wenn er fällt, spaltet er die Leute sehr stark. Da geht es schnell um persönliche Angst. Zugleich versteht jeder ein bisschen etwas anderes darunter, es ist ein sehr offener Begriff. Das führt aus rechtlicher Sicht dazu, dass das Kindeswohl oft nicht ausreichend berücksichtigt und abgewogen wird. netzpolitik.org: Wie viele Fälle von vermeintlich radikalisierten Schüler:innen gibt es in Deutschland? Konstantin Welker: Das ist schwer zu sagen. Nur ein Bruchteil der Fälle, mit denen Lehrer:innen tagtäglich konfrontiert sind, wird dokumentiert und so kommt fast nichts davon an die Öffentlichkeit. Durch die Beratungsstelle Radikalisierung beim BAMF wissen wir, dass dort in einem fünfjährigen Zeitraum aus circa 3100 Anrufen etwa 850 Beratungsfälle entstanden sind. Von den insgesamt etwa 230 als „sicherheitsrelevant“ eingestuften Fällen waren 60 Prozent neu für die Sicherheitsbehörden. Aber ich glaube, dass das Phänomen viel weiter verbreitet ist. netzpolitik.org: Konntet ihr da ein Muster ausmachen, welche Schüler:innen das betrifft? Deller: Kinder, die unter den Verdacht der Radikalisierung gestellt werden, werden nicht mehr als Kinder, also potenzielle Opfer gesehen, sondern in erster Linie als mögliche Gefährdung. Und das betrifft in besonderem Maße Kinder of Color, die nachweislich schneller als Erwachsene behandelt werden als weiße Kinder, wie eine Studie der Georgetown-Universität zeigt. Welker: Auch in den Materialien, die wir untersucht haben, wurde fast immer von einer islamistischen Radikalisierung ausgegangen. In dem Zusammenhang ist es interessant, dass die Beratungsstelle Radikalisierung am BAMF angesiedelt ist und nicht im Innenministerium. Da sieht man schon, dass Radikalisierung als etwas verstanden wird, was von Migrant:innen und Geflüchteten ausgeht, sonst würde viel dafür sprechen, diese Stelle woanders anzusiedeln. Der antimuslimische Rassismus, den es in unserer Gesellschaft gibt, der zeigt sich gerade in solchen grundrechtlich brisanten Themen.

via netzpolitik: Privatsphäre von Kindern – „Der Verfassungsschutz ist dann plötzlich sehr nah an der Schule dran“

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