Was macht es mit einer durchschnittlichen westdeutschen Kleinstadt, wenn die AfD an Bedeutung gewinnt? Das ist zurzeit gut in Nierstein zu beobachten. Die AfD stellt hier einen Stadtbürgermeisterkandidaten, was zu Reaktionen führte; ein Bündnis gegen Rechtsextremismus hat sich gebildet, es gab Kundgebungen und Gegen-Demos. Plötzlich ist von „Seiten“ die Rede, auf denen man stehen sollte, von Haltung und Spaltung. (…) Gegen eine Geschäftsfrau, so heißt es, soll es Boykottaufrufe gegeben haben – weil sie an einer Kundgebung der AfD auf dem Marktplatz teilgenommen hat. Wobei „teilgenommen“ vielleicht schon zu viel gesagt ist: Sie habe einfach mal hingehen wollen, schauen und hören, was „die“ zu sagen hatten. Seitdem werde „sie übelst angegriffen und diffamiert“, teilte die Frau später einem der Männer mit, die bei jener Kundgebung gesprochen hatten – Thomas Günther war 20 Jahre lang Niersteiner Stadtbürgermeister der CDU, trat dann aus der Partei aus und unterstützt heute die AfD. In ihrem Brief an Günther schreibt die Geschäftsfrau, was ihr widerfahre, nachdem sie bei der AfD-Veranstaltung gewesen sei.: Der SPD-Spitzenkandidat komme nicht mehr in den Laden, von der Arbeiterwohlfahrt werde sie regelrecht „bedrängt“, berichtet sie: „Es wird geraten, nicht mehr bei mir einzukaufen.“ (…) Sozialdemokraten sollen zum Boykott aufgerufen, die AWO mit Kündigung der Geschäftsbeziehung gedroht haben, erklärt der AfD-Mann: „Hier zeigt sich nun ganz klar, wer undemokratisch ist und die Gesellschaft spaltet.“ Nur: Dass es tatsächlich Boykottaufrufe gegeben haben könnte, dafür existiert kein einziger Beleg. Es stimme zwar, dass er, als vormals langjähriger Stammkunde, jetzt nicht mehr in den Laden komme, sagt der Niersteiner SPD-Fraktionsvorsitzende Markus Frank. „Das habe ich für mich so entschieden.“ Und dazu stehe er, auch in seinem Freundeskreis. Keinesfalls habe er aber andere dazu aufgefordert, es ihm gleichzutun. „Es gibt keinen Boykottaufruf von mir oder seitens der SPD.“ Aufforderungen zum Boykott habe es auch von der Arbeiterwohlfahrt nie gegeben, betont der Niersteiner AWO-Vorsitzende Alois Rosinus. Das Gegenteil sei der Fall; für das „Erzählcafé “ habe der Verein seine Bestellungen bei der Geschäftsfrau weder storniert, noch habe er das für die Zukunft vor. „Wo aber Alois Rosinus privat einkauft, ist allein die Sache von Alois Rosinus“, stellt der AWO-Chef klar.
via allgemeine zeitung: Nierstein, die AfD und die Furcht vor Spaltung