Im Schatten des Holocaust wurde die Konvention verhandelt. Jüngere Ereignisse und Missbräuche des Völkermordbegriffs belegen ihre Aktualität. Vor 75 Jahren, am 9. Dezember 1948, verabschiedete die UN-Generalversammlung mit Resolution 260 A (III) den Text eines fortan als Völkermordkonvention bekannten internationalen Vertrages. Die “Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes” – so ihre offizielle Bezeichnung – ist damit genau einen Tag älter als die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Heute hat sie 153 Vertragsparteien und bildet damit ein Herzstück der konsentierten Wertegrundlage der Weltgemeinschaft. Ihre Vorgaben sind außerdem völkergewohnheitsrechtlich anerkannt. Das in ihr manifestierte Völkermordverbot ist darüber hinaus Teil des zwingenden Völkerrechts. Es stigmatisiert das “Verbrechen aller Verbrechen” (crime of crimes), d.h. Handlungen, die darauf gerichtet sind, “eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören” (Artikel II). Flankiert wird dieses Verbot von weiteren elementaren Pflichten: Staaten müssen, so schreibt es Artikel I der Konvention fest, Völkermord in ihren nationalen Rechtsordnungen unter Strafe stellen, Straftäter verfolgen und drohende Völkermorde verhindern. Ob der 75. “Geburtstag” der Völkermordkonvention Anlass zum Feiern gibt, ist keinesfalls ausgemacht. Völkermord ist völkerrechtlich stigmatisiert, aber findet weiterhin statt. Die furchtbaren Massaker an den Tutsi in Ruanda und an bosnischen Muslimen in Srebrenica hinterlassen auch nach gut einem Vierteljahrhundert tiefe Spuren. Im vergangenen Jahrzehnt sind – von der Weltöffentlichkeit teils kaum beachtet – die Jesiden im Nordirak Opfer genozidaler Handlungen geworden. Ob die gewaltsame Unterdrückung der Rohingya durch das Militär Myanmars ebenfalls als Völkermord einzustufen ist, prüft derzeit der Internationale Gerichtshof in Den Haag. In einem weiteren Verfahren muss sich der Gerichtshof mit dem politischen Missbrauch des Völkermord-Vorwurfs auseinandersetzen: Die Russische Föderation versuchte Anfang 2022 ihren Angriffskrieg gegen die Ukraine unter anderem mit der (völkerrechtlich hanebüchenen) Behauptung eines Völkermordes an der ethnisch russischen Bevölkerung in der Ost-Ukraine zu rechtfertigen.

via lto: 75 Jahre nach Verabschiedung der Völkermordkonvention Das völ­ker­recht­liche “Nie wieder!”