Im Lübcke-Ausschuss des hessischen Landtages kommen erneut Versäumnisse beim Verfassungsschutz ans Tageslicht. Hunderte Neonazis wurden dort ohne ordentliche Prüfung nicht weiter beobachtet. Das hessische Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) hat im Jahr 2015 Hunderte Rechtsextreme ohne ernsthafte Prüfung aus der aktiven Beobachtung genommen und dabei bewusst riskiert, dass auch gewaltbereite Neonazis vom Radar verschwinden. Dies betraf auch den Neonazi Stephan Ernst, der ab 2015 nicht mehr auf dem Schirm des hessischen Geheimdienstes gewesen war und im Juni 2019 den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke erschossen hatte. Diese Entscheidung sei damals „nur mit großem Bauchweh“ getroffen worden, man habe aber wegen großer Arbeitsüberlastung keine andere Wahl gehabt, sagte eine LfV-Mitarbeiterin am Mittwoch im Untersuchungsausschuss des hessischen Landtages zum Mord an Walter Lübcke. Die Beamtin war seinerzeit stellvertretende und zeitweise kommissarische Leiterin des Dezernats Rechtsextremismus. Es sei klar gewesen, dass nicht in jedem Fall gewährleistet werden konnte, dass rechte Führungspersonen oder Gewalttäter weiter beobachtet würden, sagte die Beamtin. „Das war eine bewusste Entscheidung.“ Hintergrund des Vorgehens war ein Löschmoratorium, das das hessische Innenministerium im Juli 2012 nach dem Bekanntwerden der rechten Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) und der gezielten Vernichtung relevanter Akten im Bundesamt für Verfassungsschutz verhängt hatte. Dadurch war es dem LfV untersagt, Akten zum Rechtsextremismus zu löschen, obwohl bei persönlichen Daten nach fünf Jahren geprüft werden muss, ob die Behörde sie unbedingt weiter braucht – etwa, weil die Beobachteten noch gefährlich sind. Später wurde dann entschieden, die betreffenden Akten nicht mehr zu vernichten, sondern sie nur für die aktive Bearbeitung zu sperren. Dadurch seien ab dem Sommer 2012 immer mehr Prüffälle „sozusagen aufgelaufen“, schilderte die LfV-Mitarbeiterin. Ende 2014 habe man einen „Berg von 1300 Fällen“ vor sich gehabt, den man nicht mehr habe abarbeiten können. Daraufhin sei ein vereinfachtes Verfahren mit mehreren „Fallgruppen“ entwickelt worden. Die Akten vieler Altfälle seien automatisiert gesperrt worden, in anderen Fällen sei von zwei Mitarbeiterinnen nur grob anhand elektronisch verfügbarer Daten geprüft worden, ob die entsprechenden Neonazis weiter beobachtet werden müssten. In dieser Gruppe befand sich auch Stephan Ernst.

via fr: Lübcke-Ausschuss: Neonazis nicht mehr im Fokus

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