In der DDR geschah furchtbares Unrecht. Doch wer sie als Ganzes zum Unrechtsstaat erklärt, kann zu keiner differenzierten Betrachtung des Lebens in diesem Land gelangen. Er pflegt lediglich alte Feindbilder und entschuldigt die Feiglinge von einst. Das Wort vom “Unrechtstaat DDR” stammt aus dem Kalten Krieg, als die Systeme konkurrierten: der “freie Westen” mit der sozialistischen Welt. Die so titulierte DDR war ein Mutterstaat, eine nährende, Geborgenheit stiftende Amme, und zugleich ein fordernder und strenger Vaterstaat. Hier existierte, durch Verfassung verbrieft, der Hort des Friedens. Es war festgelegt, dass die Lehren aus der Geschichte gezogen seien, jeder ein Recht auf Arbeit, Bildung, Gesundheit habe, auf Kultur, Sport, Freizeit, auf Fürsorge im Alter. Glaubens- und Gewissensfreiheit galten als garantiert. Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit haben längst nicht alle Bürger zu spüren bekommen. (…) Wer die DDR noch 25 Jahre nach ihrem Ende in toto zum Unrechtstaat erklärt, der kann zu keiner differenzierenden Betrachtung des Lebens in diesem Land gelangen. Abgesehen von der Frage, ob das Diktum “Unrechtsstaat” überhaupt eine juristisch taugliche Bezeichnung ist: Es delegitimiert alles, was in der DDR gewesen ist. (…) In der DDR herrschte Willkür. Viele Widersprechende mussten das bitter erleben. Es gab keine Gewaltenteilung; der Staat strafte die Abweichler. Zugleich aber konnte Kritik geübt werden, und sie wurde es auch. Nicht nur das Kabarett legte die Differenz zwischen Idee und Praxis offen, zwischen den großen Zielen der humanistisch-sozialistischen Gesellschaft und dem leninistisch-stalinistischen “Bolschewismus”, der immer auch Tschekismus war. Es war so möglich wie gefährlich, den “real existierenden Sozialismus” an den propagierten Zielen zu messen und zu kritisieren, gerade was die Entfaltungsrechte und -möglichkeiten des Einzelnen betraf (…) Niemand darf relativieren, was in den Gefängnissen der Stasi geschah, welche Methoden der Zerrüttung bei angeblichen Staatsfeinden angewandt, wie Kinder indoktriniert wurden. Man darf das Dumpfe nicht schönreden, das über dem Land lag, den Verfall, die organisierte Verantwortungslosigkeit, die Belohnung des Faulen und Unfähigen. Das alles muss man benennen, kritisieren, verurteilen – doch ohne die Generalverdammungskeule Unrechtstaat zu gebrauchen. Diese Generaldelegitimation mag immer noch das Bedürfnis nach einem Feindbild befriedigen. Sie birgt aber die Gefahr, dass die DDR auf eine Stufe mit dem Nationalsozialismus gesetzt wird, was eine Verharmlosung von Judenmord und Angriffskrieg wäre.
via sz: DDR:Es gab Lücken in der Mauer