Russland jagt seit zwei Jahren Andersdenkende als „Terroristen“. Die echten Gefahren aus Islamistenkreisen hat der FSB vernachlässigt. 19 Stunden hatte es gedauert, bis der Mann, den vor einer Woche angeblich fast 90 Prozent seines Volkes wieder einmal zum Präsidenten gekürt hatten, zu eben diesem Volk sprach – nach dem wohl schlimmsten Terroranschlag der vergangenen 20 Jahre. 19 Stunden Stille, während die Menschen in der verrauchten Konzerthalle „Crocus City Hall“ nahe Moskau um ihr Leben schrien. Mehr als 130 von ihnen überlebten das Attentat nicht. Putin telefonierte derweil mit dem belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko, ließ sich offenbar allerlei Berichte von den Ermittlungsarbeiten bringen – und sagte erst etwas, als andere Staatenlenker längst ihr Entsetzen kundgetan und ihr Beileid für die Hinterbliebenen ausgedrückt hatten. Es ist ein typisches Verhalten Putins, der sich bei Katastrophen erst einmal Zeit verschafft. (…) Doch das, was Putin nach fast 20 Stunden Schweigen von sich gab, wirkt so entrückt von der „Einheit Volk“, dass sein Auftritt noch mehr verunsichert, als dass er den Menschen die Antworten gibt, nach denen sie verlangen: Wie konnten die Attentäter überhaupt in die Halle kommen? Warum ist der so aufgeblähte Sicherheitsapparat sofort zur Stelle, wenn ein paar Bür­ge­r*in­nen Blumen für einen toten Oppositionspolitiker ablegen wollen, aber offenbar abwesend, wenn bewaffnete Terroristen in einer Menschenmenge um sich schießen? Während Russlands Behörden in den vergangenen zwei Jahren nahezu täglich Andersdenkende wegen „Rechtfertigung des Terrorismus“ jagten, hatten sie den Blick für echte Gefahren aus Islamistenkreisen vernachlässigt. Um nun nicht allzu viele Fragen dazu beantworten zu müssen, verschärft der Kreml das propagandistische Getöse um eine „ukrainische Spur“ beim jüngsten Terroranschlag und lässt die Menschen vollkommen im Ungewissen, was in den kommenden Tagen auf sie zukommen wird.

via taz: Terror in Moskau :Versagen der Sicherheitsdienste

siehe auch: Terror in Konzerthalle in Russland :Kommt die Tat Putin gelegen? Der russische Präsident Putin gibt der Ukraine eine Mitschuld an dem Terroranschlag. In der Ukraine rechnet man mit heftigeren Angriffen. Dass der Terroranschlag in der Crocus Hall weitere Repressionen in Russland und eine Verhärtung im russisch-ukrainischen Krieg zur Folge haben werden, stehen für die meisten Beobachter in der Ukraine außer Zweifel. Es spielt auch keine Rolle, ob islamistische Terroristen am Werk waren oder nicht. Mitunter ist auch Schadenfreude über den Tod von Russen zu spüren, die mehrheitlich den Krieg gegen die Ukraine unterstützen. Wirklich traurig über den Terroranschlag ist der Charkower Journalist Pawlo Fedosenko nicht. (…) Fedosenko ist sich sicher, dass das Massaker der russischen Führung sehr gelegen kommt. „Halten wir doch mal fest“, schreibt er am 23. März, einen Tag nach dem Anschlag: „Terroristen sind ins Crocus gekommen, um zu töten. Und sie töten seit Langem. Das ganze Land weiß das, und sie sind immer noch dort. Buchstäblich in Real Time kann man das beobachten, kann sehen, wie sie das Gebäude in Brand setzen. Und dann verlassen sie seelenruhig das Haus, setzen sich in einen Wagen. Das Kennzeichen des Autos ist bekannt. Sie haben es nicht ausgewechselt. Dann verlassen sie in aller Ruhe das Gebiet Moskau, das mit Überwachungskameras nur so bespickt ist. Fahren 400 Kilometer in einem Auto, das alle russischen Geheimdienste suchen. Und erst unweit der Grenze zur Ukraine werden sie verhaftet.“; Anschlag bei Moskau Warum ignorierte Russland die Warnungen der Amerikaner? Detailliert hatten die USA Moskau vor dem Terroranschlag mit mehr als 130 Toten gewarnt – und wurden ignoriert. Gesprächskanäle zwischen den Geheimdiensten beider Staaten bestehen seit Langem. Warum sind sie so ineffektiv? (…) Am 7. März veröffentlichte die amerikanische Botschaft in Moskau auf ihrer Website einen dringenden Sicherheitshinweis . Ihr lägen Informationen vor, »wonach Extremisten unmittelbar bevorstehende Pläne haben, große Versammlungen in Moskau anzugreifen, darunter auch Konzerte«. Die unmittelbare Gefahr bezogen die USA zwar auf »die nächsten 48 Stunden«, doch die Details haben sich zwei Wochen später auf grausame Weise bewahrheitet. Putin hatte die Warnung noch am Dienstag mit höhnischer Verachtung diskreditiert Das Massaker am Freitag ist eines der schlimmsten Terrorverbrechen in der jüngeren russischen Geschichte. Am Samstagmittag war von 133 Toten die Rede . Der »Islamische Staat« bekannte sich zu dem Anschlag. Woher die Amerikaner ihr Wissen bezogen, ist nicht bekannt. Aber die Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrates im Weißen Haus, Adrienne Watson, erklärte am Freitag, die USA hätten ihre Informationen mit der russischen Regierung geteilt. Präsident Wladimir Putin hatte die Warnung jedoch noch am Dienstag mit höhnischer Verachtung diskreditiert. Die Berichte, so der frühere Geheimdienstler, seien eine Provokation der Amerikaner: Es gehe Washington um »offene Erpressung und die Absicht, unsere Gesellschaft einzuschüchtern und zu destabilisieren«.

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