Wolfgang Thierse sieht sich als Symbol für die „normalen Leute“. Aber wer soll das sein? Und noch schlimmer: wer nicht? Ein Kommentar. Es gibt eine Szene in der unrühmlichen Geschichte deutscher Filmkomödien, von der Wolfgang Thierse nie öffentlich behauptet hat, sie gesehen zu haben. Sie stammt aus dem Jahr 1997 und zeigt den Schauspieler Tom Gerhardt am Ballermann. Gerade auf Mallorca gelandet, beobachtet er einen Trupp biodeutscher Touristen, die unter viel Gegröle einen Mann anfeuern, der eine Maß Bier ext und besoffen nach hinten umkippt. Gerhardt konstatiert: „Endlisch normaaale Leute.“ Es war in einer Zeit, als die SPD mit einem Wahlergebnis von 37,5 Prozent noch ohne Scham von sich sagen konnte, eine Volkspartei zu sein. Und es ist das Jahr 2021, in dem Wolfgang Thierse die ganze analytische Kraft von Tom Gerhardt wieder bemüht, wenn er dem „Zeit-Magazin“ sagt: „Ich bin mittlerweile zum Symbol geworden für viele normale Menschen, die ihre Lebensrealität nicht mehr gespiegelt sehen in der SPD, die unsicher sind, was sie noch sagen dürfen und wie sie es sagen dürfen.“ Und: „Wissen Sie eigentlich, dass normale Leute mir danken für meinen Mut?“ Die normalen Leute. Wer soll das sein? Und viel wichtiger noch: wer nicht? Thierse, der ja kein bekennender Ballermann-Tourist, sondern immerhin ehemaliger Präsident des Deutschen Bundestages ist und daher um die Macht seiner Worte wissen muss, beschreitet damit einen gleichsam ehrlichen wie gefährlichen und daher falschen Weg. (…) Wer „Normalität“ identitätspolitisch instrumentalisiert, wünscht also nicht nur weite Teile der Republik auf die Couch, sondern will auch jede Debatte über die bestehenden Verhältnisse abwürgen. Der Verweis auf Normalität ist in diesem Sinne nichts anderes als „Cancel Culture“, nur eben die alte, an die wir uns gewöhnt haben. Aus einem Nebeneinander kann so kein Miteinander werden. Thierse stellt die absolute Machtfrage: die nach dem Entweder und dem Oder. Die Frage nach der Vorherrschaft und selbstverständlichen Überlegenheit der Norm ist in der Weltgeschichte oft gestellt worden und wo immer die Antwort absolut ausfiel, endete es in einer Katastrophe. Der Rückzug darauf ist ein gesellschaftlicher Irrweg.

via tagesspiegel: Die Identitätspolitik des Wolfgang Thierse – „Normalität“ ist die Cancel Culture des alten weißen Mannes