Anna Bikont hat mit Tätern und Überlebenden gesprochen – und widerlegt Geschichtsmythen. Die Vernichtungswut, die in den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs über die Juden in den baltischen Ländern hereinbrach, verbreitete sich vor allem in den von den Deutschen besetzten Gebieten im Osten. Auch die Polen, als unterdrückte Opfer, beteiligten sich damals an der massenhaften Ermordung von Juden. Die bekanntesten Massaker fanden am 10. Juli 1941 im Distrikt Bialystok, in Radzilów und in Jedwabne statt. Diese Pogrome in Nordostpolen waren nicht die einzigen ihrer Art. Im Sommer 1941, kurz nach dem Einmarsch der Wehrmacht und der Roten Armee, ermordeten Polen in weiteren 3o Städten ihre jüdischen Nachbarn. In ihrem jetzt auch auf Deutsch vorliegenden Buch Wir aus Jedwabne hat die aus Warschau stammende Journalistin Anna Bikont in jahrelangen Recherchen Täter und Zeitzeugen zum Sprechen über die ungeheuerlichen Verbrechen gebracht. Jahrzehntelang hatten polnische Historiker versichert, es habe keine Zusammenarbeit mit den Deutschen gegeben. Auch wurde von polnischer Seite immer bestritten, sich an Pogromen beteiligt zu haben. Auf einmal war das Bild, dass die Polen nur Opfer und Helden des Widerstands waren, zerbrochen. Schon bald nach der Besetzung Polens durch die Wehrmacht wurde der Bevölkerung der Ostgebiete eine grundlegende Tatsache klar: Kein Gesetz, keine Regel, kein Maß schützte einen Juden. Die Einwohner der kleineren Städte im Distrikt Białystok ermordeten den größten Teil ihrer jüdischen Nachbarn. Sie erschlugen sie, erschossen sie und verbrannten sie zu Dutzenden bei lebendigem Leibe in Scheunen. Der Ort Jedwabne wurde zum Inbegriff polnischer Verbrechen an ihren jüdischen Mitbürgern. Als einer der Ersten hatte im Jahr 2000 der polnische Historiker Jan Tomasz Gross in seinem Buch Nachbarn die Schuld der Deutschen an dem Pogrom von Jedwabne bezweifelt. Gross ging von rund 1600 Opfern aus, die am 1o. Juli 1941 von ihren polnischen Nachbarn erschlagen oder in einer Scheune verbrannt wurden. Bei der Tat, so ermittelten Juristen 6o Jahre später in Bialystok, habe es sich um ein »geplantes Verbrechen« von Polen aus der Umgebung gehandelt. Im Bericht eines Überlebenden heißt es: »Säuglinge wurden an der Brust ihrer Mütter erschlagen, Erwachsene halb tot geprügelt und zum Singen und Tanzen gezwungen. Blutend und verletzt wie sie waren, stieß man sie alle in die Scheune. Dann wurde die Scheune mit Benzin übergossen und angezündet. Danach gingen die Banditen in die jüdischen Wohnungen und suchten nach zurückgelassenen Kranken und Kindern. Die Kranken, die sie fanden, schafften sie selbst zur Scheune, und die Kinder banden sie zu mehreren an den Füßen zusammen, luden sie auf den Rücken und warfen sie mit Heugabeln auf die Glut.«

via jüdische allgemeine: NS-BESATZUNG – Polen und das Massaker von Jedwabne

siehe auch: Wie konnten die Menschen von nebenan zu Mördern werden? Jahrhundertelang lebten im polnischen Jedwabne Juden. 1941 wurden sie von einem einheimischen Mob ermordet – die Journalistin Anna Bikont rekonstruiert die Ereignisse in einer detaillierten Recherche. Am 10. Juli 1941 ermordeten die Einwohner der nordostpolnischen Kleinstadt Jedwabne ihre Nachbarn. Zunächst wurden die lokalen Juden genötigt, sich morgens auf dem Marktplatz einzufinden. Dort wurden sie stundenlang gequält. Einige zwang man, das verhasste Lenin-Denkmal zu zerstören, und schlug sie anschliessend tot. Gegen Abend trieb man die Übrigen in eine Scheune, die mit Benzin übergossen und in Brand gesteckt wurde. Unterdessen begannen die Plünderungen jüdischen Besitzes, an denen sich auch Polen aus den umliegenden Dörfern beteiligten. (…) Als im Sommer 1941 die Wehrmacht in Ostpolen einmarschierte – und damit den Molotow-Ribbentrop-Pakt brach –, kam es nicht nur in Jedwabne, sondern auch an anderen Orten zu Pogromen von Polen an Juden. Für die Deportationen nach Sibirien machten viele Polen nämlich die lokalen Juden verantwortlich und ignorierten dabei, dass unter den Deportierten selbst auch Juden waren. Ihre Untaten verteidigten die Mörder von Jedwabne als Revanche an den angeblichen jüdischen Kommunisten und Kollaborateuren. Der Vernichtungspolitik der deutschen Besatzer, die zu solchen Pogromen anstifteten oder sie mindestens billigten, spielten solche Gewaltexzesse der örtlichen Bevölkerung in die Hände. Neben der Verrohung durch die doppelte Besatzungserfahrung legt Bikont weitere Motivlagen der Täter frei: den Judenhass, der von einem schwärenden Nationalismus befeuert wurde, die traditionelle Judenfeindlichkeit in Teilen der katholischen Kirche und die schamlose Habgier, mit der sich manche jüdischen Besitz aneigneten. In Dutzenden Gesprächen mit Einwohnern von Jedwabne und anderen betroffenen Gemeinden wie Radzilow und Wasosz bekommt Bikont vor allem Ablehnung und Angst zu spüren. Man schlägt ihr die Tür vor der Nase zu oder beschimpft sie. Falls man zum Gespräch bereit ist, bittet man sie, doch bitte anderswo zu parkieren – damit die Nachbarn nichts merken

Jedwabne Z-pomnik.jpg
Von <a href=”//commons.wikimedia.org/wiki/User:Fczarnowski” title=”User:Fczarnowski”>Fczarnowski</a> – <span class=”int-own-work” lang=”de”>Eigenes Werk</span>, CC BY-SA 3.0, Link

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