Oder musste er nichts befehlen? Seit Jahrzehnten machen sich Historiker Gedanken, wie der Holocaust in Gang gesetzt wurde. Bei ihrem Vormarsch gegen die Deutschen seit 1943 stießen die Alliierten fast überall auf Massengräber und fanden bei Kriegsende in den Konzentrationslagern sterbende Häftlinge und Leichenberge vor. Ein so umfassendes System der Unterdrückung und Vernichtung, davon waren Briten, Amerikaner und Russen überzeugt, musste auf langer Planung und zentralen Befehlen beruhen. Die “Endlösung der Judenfrage” hatte sich ja auf alle europäischen Länder erstreckt, die von Deutschland und von seinen Verbündeten besetzt worden waren. Die Vorstellung von Planung und zentraler Lenkung passte zudem zu einschlägigen Ankündigungen der NS-Führung. Hatte nicht Hitler am 30. Januar 1939 für den Fall eines Weltkrieges die “Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa” prophezeit? Hatte er nicht in seinem Buch Mein Kampf bedauert, dass die “hebräischen Volksverderber” nicht bereits im Ersten Weltkrieg “unter Giftgas gehalten” worden waren? Es lag nahe, eine Linie von der Intention zur Ankündigung und zur Verwirklichung zu ziehen, die von Mein Kampf bis nach Auschwitz reichte. Hinzu kam, dass sich die Angeklagten in den verschiedenen Nürnberger Prozessen nach 1945 auf umfassende Mordbefehle Hitlers beriefen. (…) Die Historiker Martin Broszat und Hans Mommsen griffen diese Erkenntnisse in den späten sechziger und siebziger Jahren auf und wiesen darauf hin, dass der Weg in den Massenmord nicht linear verlaufen sei, sondern sich als “kumulative Radikalisierung” vollzogen habe. Die sei nicht durch einen “Führerbefehl” in Gang gesetzt, sondern durch die destruktive Dynamik der NS-Herrschaftsstruktur vorangetrieben worden, vor allem durch die Rivalität konkurrierender NS-Instanzen. Der langjährige Streit zwischen “Strukturalisten” wie Broszat und Mommsen und “Intentionalisten”, die nach wie vor die Linearität zwischen weltanschaulicher Zielsetzung und ihrem Vollzug hervorhoben, hat die Forschung bis in die neunziger Jahre geprägt, gilt heute jedoch als überholt. Einerseits waren am Holocaust eine Vielzahl von Personen, Institutionen und Herrschaftsträgern in den besetzten Gebieten beteiligt – ihr Zusammenwirken und auch ihr Nichtzusammenwirken ist komplex und kann nicht mit einem zentralen Befehl erklärt werden. Andererseits waren die wesentlichen Initiativen an der Peripherie jederzeit mit Hitler und Himmler abgestimmt, die über alle Entwicklungen nicht nur informiert waren, sondern sie zugleich durch eindeutige Äußerungen und mündliche Weisungen vorantrieben. Dabei legten sie auch Sprachregelungen fest: “Judenfrage/als Partisanen auszurotten” notierte sich Himmler als Ergebnis eines Gespräches, das er mit Hitler am 18. Dezember 1941 geführt hatte. Der Historiker Christian Gerlach interpretierte 1997 gerade diese und einige andere Notizen von weiteren NS-Funktionären als Beweis, dass Hitler am 12. Dezember 1941 bei einer Rede vor Reichs- und Gauleitern in Berlin eine “Grundsatzentscheidung” zur Vernichtung der Juden verkündet habe. Sein Kollege Peter Longerich sprach 2001 von einem “ungeschriebenen Befehl”. Zwar habe Hitler im Dezember 1941 keine Grundsatzentscheidung getroffen, sich jedoch als Motor einer “Politik der Vernichtung” erwiesen, die von Herbst 1939 bis Sommer 1942 schrittweise eskaliert sei.

via zeit: Holocaust: Was befahl Hitler?

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