Die Urteile im Antifa-Ost-Prozess sollen Linke abschrecken. Dabei geht die größere Gefahr von Rechtsextremen aus. Warum Antifaschismus nötiger ist denn je. Mit den Urteilen im Antifa-Ost-Prozess gegen Lina E. und drei weitere Antifaschisten hat der Staat ein Exempel statuiert. Verurteilt wurden die Angeklagten nicht allein für sechs Körperverletzungen, die sie laut einer Indizienkette begangen haben sollen. Das Urteil gilt darüber hinaus dem antifaschistischen Selbstverständnis, Nazis notfalls, etwa wenn der Staat versagt, militant in ihrem Handlungsspielraum zu begrenzen. Mit dem Konstrukt der „kriminellen Vereinigung“ wird dieser Anspruch als potentiell staatsgefährdend eingestuft. Mögliche Nachahmer sollen abgeschreckt werden. Doch die Sicherheitsbehörden, von der sächsischen Soko Linx bis hin zu Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), unterliegen dabei einem entscheidenden Irrtum: Der Staat ist, vor allem im Osten, längst selbst gefährdet. Und zwar von rechts. Faeser mahnte am Tag der Urteilsverkündung an: Die Radikalisierungs- und Gewaltspirale dürfe sich nicht weiterdrehen. Es ist das Narrativ, das im Zuge des Prozesses wiederholt zu vernehmen war: Rechte und linke Extremisten schaukeln sich auf – „Bis einer stirbt“. So stand es in der Welt – in völliger Negation dessen, dass Menschen die ganze Zeit sterben: 219 Todesopfer rechter Gewalt seit 1990. Der Eisenacher Leon Ringl wurde nicht durch die beiden Überfälle, die vermeintlich die Gruppe um Lina E. auf ihn verübte, zum gefährlichen Nazischläger und Rechtsterroristen. Bis es dazu kam, hat Ringl über Jahre hinweg in der thüringischen Kleinstadt daran gearbeitet, eine „national befreite Zone“ aufzubauen. Mit der militanten Gruppe Knockout 51 ging er auf Menschenjagd und verübte Anschläge, mit seiner Kneipe Bull’s Eye bot er der gewaltbereiten Szene einen Rückzugs- und Vernetzungsort und mit seinem Versuch, einen deutschen Ableger der den Rassenkrieg propagierenden „Atomwaffen Division“ aufzubauen, wollte er den Schritt zum Terrorismus weitergehen. Der Staat hat all das lange geschehen lassen und zeigte sich außerstande, Menschen anderer Herkunft oder nicht rechter Gesinnung zu schützen. Erst dieses Staatsversagen reißt die Lücke, in der sich Antifaschist:innen legitimiert sehen, selbst tätig zu werden. Dabei ist nicht von der Hand zu weisen: Ein menschenwürdiges Leben für alle, also auch für Nicht-Deutsche und Nicht-Weiße, für LGBTQ oder Linke ist nur da möglich, wo das rechte Gewaltmonopol gebrochen ist. (...) Zwar werden anders als in den 1990er Jahren inzwischen auch Nazis mitunter hart bestraft, so etwa die Gruppe Freital, doch die Beispiele der Nachlässigkeit – nicht nur in Sachsen – sind zahlreich. Die Aufarbeitung des Nazi-Angriffs auf den linksalternativen Leipziger Stadtteil Connewitz wurde ewig verschleppt, die Angreifer kamen glimpflich davon. NSU-Helfer André Eminger, Helfer für 10 Morde also, erhielt mit 2,5 Jahren Haft eine geringere Strafe als der Lina E.-Helfer Jonathan M. Rechte Hegemonie Und zwei Neonazis, die im thüringischen Fretterode zwei Journalisten lebensgefährlich attackierten, kamen mit einem Jahr auf Bewährung und 200 Sozialstunden davon. Das milde Urteil begründete der Richter damit, dass sie ihre Opfer nicht als Journalisten erkannt, sondern für Linke gehalten hatten. Während viele wegschauen, ist die AfD im Osten zur mittlerweile flächendeckend stärksten Kraft aufgestiegen, der Faschist Björn Höcke könnte in Thüringen im nächsten Jahr die Wahl gewinnen. In diesem Klima breitet sich unter den Kindern der Baseballschlägereltern vielerorts wieder eine rechte Hegemonie aus, in der halbe Klassenverbünde zum Hitlergruß ansetzen, wie jüngst der Brandbrief Brandenburger Lehrer:innen zeigte. Das rechte Gewaltmonopol auf den Straßen vieler vor allem ländlicher Regionen geht, anders als in den Nachwendejahren, mit einer realen Machtperspektive der extremen Rechten einher, denen von der vermeintlich konservativen Mitte der braune Teppich ausgerollt wird.
via taz: Prozess gegen Lina E. :Antifa, weil Staatsversagen