Der Kreml will “Realitäten” anerkennen und drängt auf Verhandlungen, der jetzt verkündete Abzug aus Cherson deprimiert Nationalisten und empört Fanatiker. Hinter den Kulissen wittern manche Beobachter eine “beispiellose diplomatische Aktivität”. Von Peter Jungblut Die Propagandisten im Kreml hatten die russische Öffentlichkeit seit Tagen darauf vorbereitet: Russland gibt die eroberten ukrainischen Gebiete um Cherson auf und nimmt seine Truppen auf das linke Ufer des Dnepr zurück, wie Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Befehlshaber Sergej Surovikin bekanntgaben. “Es wird eine umfassende Bewertung der aktuellen Situation vorgeschlagen. Ich verstehe, dass das eine sehr schwierige Entscheidung ist. Außerdem wird ein Teil der frei werdenden Kräfte und Mittel für aktive Operationen, einschließlich offensiver, in anderen Richtungen der Operationszone eingesetzt.” Die Region Cherson könne nicht mehr “vollständig versorgt” werden, ständig seien Menschenleben in Gefahr. Angeblich hat Russland bereits 115.000 Einwohner “evakuiert”. Diplomaten wollen sich an “Realitäten” halten Gleichzeitig sagte die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa: “Wir sind weiterhin offen für Verhandlungen. Wir haben sie nie aufgegeben, wir sind bereit, sie aufzunehmen, natürlich unter Berücksichtigung der Realitäten, die sich im Moment entwickeln.” Was das konkret bedeutet, dazu äußerte sich Sacharowa nicht. Ihr Hinweis auf die neuesten Entwicklungen befeuerte jedoch die Fantasie von Beobachtern, wonach Russland einlenken und möglichst bald einen Waffenstillstand erreichen will. Zuvor hatte der stellvertretende Außenminister Andrej Rudenko geäußert, zum Reden sei nur der “gute Wille der Ukraine” nötig. Die defensiven Formulierungen der Diplomaten und der Rückzug aus Cherson sorgen bei Militärbloggern für Entsetzen, die russische Öffentlichkeit rätselt, was das alles zu bedeuten hat. Darüber hinaus sorgt der mysteriöse Tod des von den Russen eingesetzten stellvertretenden Leiters der Region Cherson bei einem ungeklärten “Autounfall” für heftige Debatten. Kirill Stremousow hatte sich in den sozialen Netzwerken immer wieder gegen die Aufgabe des Gebiets ausgesprochen und mit teils widersprüchlichen Informationen für Wirbel gesorgt. Kurz vor seinem Tod hatte Stremousow geschrieben, die Lage sei “beherrschbar, aber nicht einfach”. Seine “Prinzipientreue” haben den Mann “ruiniert”, mutmaßten Beobachter.
via br: “Treibt Patrioten zur Weißglut”: Russland auf dem Rückzug