Die Linguistin Damaris Nübling über den jüngsten Aufruf gegen gendergerechte Sprache und Argumente der Wissenschaft. In der letzten Woche erschien online ein Aufruf unter dem Titel „Wissenschaftler kritisieren Genderpraxis des Öffentlich-rechtlichen Rundfunks“ (ÖRR) und „Lingustik vs. Gendern“. Gefordert werden darin eine kritische Neubewertung des angeblich auf Gendergerechtigkeit ausgerichteten Sprachgebrauchs im ÖRR und eine Abkehr davon. Die Zahl der Unterzeichnenden steigt. Sie sind in zwei Listen eingeteilt, auf der ersten stehen diejenigen, die sich als (mindestens) studierte Philologen bezeichnen. Darunter sind bisher rund 28 Prozent Frauen. Der Aufruf setzt auf wissenschaftliche Qualifikationen der Unterstützer und Bezüge zur Linguistik. Damaris Nübling ist Professorin für Sprachgeschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und Expertin für Genderlinguistik. Wir haben mit ihr über den Aufruf geredet. Frau Nübling, in den Medien war die Rede von Sprachwissenschaftlern, „die Sturm laufen“. Fast konnte man glauben, es handele sich um einen Aufschrei der deutschen Linguistik schlechthin. Ist das so? Das ist nicht der Fall. Diejenigen, die den Aufruf unterzeichnet haben, repräsentieren nicht die in Forschung und Lehre aktive germanistische Linguistik. Einige Linguisten und Linguistinnen sind dabei, aber die große Mehrheit hat in der Linguistik nie gearbeitet, nie publiziert. Der Aufruf repräsentiert Ihre Sicht und die vieler Ihrer Kolleginnen und Kollegen also nicht? Wir schütteln nur den Kopf darüber, dass immer wieder dieselben Argumente, die oft keine sind, und Unterstellungen aufgewärmt werden. Die aktive Linguistik interessiert sich kaum für diese Debatten im Feuilleton, sie steht ganz woanders. Große Teile der linguistischen Community äußern sich nicht, weil die öffentliche Diskussion nicht sonderlich anregend ist. Sie tritt seit Jahrzehnten auf der Stelle. Von denen, die bis Mitte der Woche unterzeichnet haben, scheinen aktuell rund 18 Prozent an einer Universität oder wissenschaftlichen Einrichtung aktiv zu sein – darunter: ein Spezialist für Hindi, ein Gräzist, ein psychologischer Spezialist für Suchtforschung, ein Wirtschaftsinformatiker, eine wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Turkistik, ein Experte für aserbaidschanische Dichtung. Wie kompetent sind die bei Fragen deutscher Grammatik? In der Tat sind viele davon keine Fachleute für germanistische Linguistik. Die bräuchte es aber, es geht hier ja ums Deutsche. Für die Punkte, um die der Aufruf kreist – etwa das Verhältnis zwischen Genus und Geschlecht –, ist die Genderlinguistik zentral. Aus der ist aber niemand vertreten. Unter den Unterzeichnenden sind auch viele Emeriti und Pensionierte. Einige geben ihre Emeritierung in der Liste an, andere erwähnen sie gar nicht. Bedeutet ihr Ruhestand, dass sie die Forschung nicht mehr angemessen vertreten? Ich will keineswegs sagen, dass manche Emeriti nicht noch forschen. Aber viele von den Unterzeichnenden sind in einer anderen Zeit groß geworden. In der Linguistik kam es ab den Neunziger-, spätestens den Nullerjahren zu einer großen empirischen Wende. Zuvor wurde viel Introspektion betrieben. In früheren Arbeiten hat man sich selbst befragt, das eigene Sprachgefühl absolut gesetzt, und das passiert noch häufig. Man nennt das auch „arm-chair-linguistics“, Linguistik vom Sessel aus. Das geht heute nicht mehr, die Ansprüche haben sich geändert.

via faz: GENDERN UND LINGUISTIK „Wir schütteln nur den Kopf darüber“

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