Rechtsextremismus – Die große Ost-Verharmlosung

Es ist neuerdings populär, Radikalisierungsprozesse im deutschen Osten zu Akten der Emanzipation umzudeuten. Das ist falsch und hat fatale Folgen. Es gibt ein deutsch-deutsches Déjà-vu. Wenn es im Osten mal wieder knallt, wenn Rechtsextremisten mit Fackeln vor dem Wohnhaus einer Ministerin aufmarschieren oder die AfD wie bei den Bundestagswahlen in Thüringen und Sachsen stärkste Kraft wird, springt ein ritualisierter Mechanismus an. Aus dem Westen wird naiv gefragt: Wie rechts ist eigentlich der Osten? Im Osten erwachen daraufhin Abwehr-Reflexe: Schließlich gab es rechten Terror ja nicht nur in Halle an der Saale, sondern auch in Hanau. In Sachsen wird Kritikern dann gern »Sachsen-Bashing« vorgeworfen, Kritik an Missständen als Beleidigung abgetan. Das war bei Pegida so, nach Heidenau, Freital, Chemnitz und zuletzt bei rechtsextrem orchestrierten Corona-Protesten. Mittlerweile ist es darüber hinaus populär geworden, die Radikalisierungsprozesse im Osten publizistisch zu Akten der Emanzipation umzudeuten. In Anlehnung an den Soziologen Wolfgang Engler gern mit dem Modewort vom Osten als »Avantgarde«. Der Osten mag ja bisweilen rau und radikal sein, aber doch wegweisend für ganz Deutschland, heißt es. Mit diesem Slogan im argumentativen Arsenal lassen sich sogar Wahlerfolgen der AfD positive Seiten abgewinnen (…) Seit Pegida bilden immer mal wieder wütende Bürger mit Neonazis anlassbezogen Protestgemeinschaften. So in der Anti-Asylbewegung und zuletzt bei Corona-Protesten. Feindbild sind stets »die da oben«. Diese laute, radikale Minderheit findet zwar übergroße Beachtung. Die großen gesellschaftlichen Probleme bleiben dagegen nahezu unbeachtet und unbearbeitet. Die Erzählung vom Osten als Avantgarde mit vermeintlich positiven Effekten durch radikal rechtes Wahlverhalten verschleiert einen beunruhigenden Befund: Der Osten hat sich geradezu an Rechtsextremismus gewöhnt – und das auf mehreren Ebenen: Mitunter stimmt ein Viertel der Wählenden für die völkisch-nationalistisch ausgerichtete AfD. Seit vielen Jahren liegen ostdeutsche Bundesländer zudem bei rechter Gewalt, bezogen auf die Einwohnerzahl, in der Spitzengruppe. Bei rechten Einstellungen unterscheiden sich Ost und West in vielen Fragen zwar nur unwesentlich. Regelmäßig wird im Osten aber, etwa von den Mitte-Studien, eine deutlich stärkere Ausländerfeindlichkeit gemessen. Demokratieforscher Oliver Decker nennt das die »Einstiegsdroge in den Rechtsextremismus«. Laut einer Allensbach-Umfrage aus dem Jahr 2019 halten übrigens nur noch 42 Prozent der Ostdeutschen die Demokratie in ihrer jetzigen Form für die beste Staatsform. Die Folgen der Radikalisierung sind im Osten täglich spürbar, auch wenn medial gerade eher Flaute ist. Unterhalb des bundesweiten Radars bleiben kulturelle rechte Hegemonien in Ostdeutschland. Wo radikal Rechte das Sagen haben und kaum jemand zu widersprechen wagt. Nur Einzelfälle kommen ans Licht

via spiegel: Rechtsextremismus Die große Ost-Verharmlosung