Der Kabarettist Dieter Nuhr fühlt sich denunziert und bringt dabei einen neuen Kampfbegriff ins Spiel: “Cancel Culture”. Auch im Zusammenhang mit der “Harry Potter”-Autorin J. K. Rowling fiel das Wort bereits. Woher kommt der Begriff? Und was ist damit gemeint? Wer in den vergangenen Tagen und Wochen die ein oder andere hitzige Netzdebatte verfolgt hat, dem dürfte dabei ein neuer Kampfbegriff untergekommen sein: “Cancel Culture”. Zuletzt beispielsweise, als es um den Kabarettisten Dieter Nuhr ging. Dieser hatte sich darüber beschwert, dass die Deutsche Forschungsgemeinschaft nach Protesten in sozialen Medien einen seiner Beiträge von der Seite entfernt hatte. Nuhr sagte daraufhin der Zeitung “Welt”: “Es gibt weltweit – Stichwort Cancel Culture – zunehmend mächtiger werdende Versuche, kritische Stimmen mundtot zu machen. Die DFG hat sich dem nun angeschlossen. Das ist sehr bedenklich.” (…) Glaubt man der Plattform Dictionary.com, so tauchte das Wort “canceln” Mitte der 2010er-Jahre erstmals in diesem Zusammenhang im angelsächsischen Raum auf. Seinen Ursprung hat es offenbar bei schwarzen Twitter-Nutzern, die damit begannen, die Arbeit von Prominenten öffentlich zu boykottieren (also: zu “canceln”), weil sie sich rassistisch geäußert hatten. Betroffen waren davon in einem ersten Fall etwa Taylor Swift oder Ed Sheeran. Zur selben Zeit tauchte der Begriff auch im Zusammenhang mit der #MeToo-Bewegung auf – Prominente wie etwa Harvey Weinstein, Matt Lauer, Louis C. K. oder R. Kelly wurden von Twitter-Nutzern wegen ihrer Vergehen “gecancelt” – andere Prominente wiederum wegen ihrer LGBT-feindlichen Einstellung. (…) Im Laufe des Jahres 2019 bildete sich jedoch allmählich eine Gegenbewegung zum öffentlichen “Canceln” von Künstlern und ihren Werken. Im Frühjahr 2019 wird dabei auch erstmals der Begriff “Cancel Culture” verwendet. Die Influencerin @hello_october_ schrieb im März 2019 beispielsweise: “Ich habe diese ‘Cancel Culture’ und das Drama wirklich satt. Und die Leute, die ständig Stellung beziehen oder zu absolut allem eine Erklärung abgeben müssen. Es ist in Ordnung, aufgeschlossen zu sein und sich eine Sekunde zurückzulehnen, um zu sehen, wie sich die Dinge entwickeln, bevor Sie eine Meinung zu etwas abgeben.” (…) Zusammengefasst ist der Begriff “Cancel Culture” also grundsätzlich negativ konnotiert. Er beschreibt das angeblich übertriebene Aufschreien einer vermeintlich linken Internetblase, die sich immer dann auf jemanden stürzt, wenn dieser ihrer Ansicht nach nicht politisch korrekt genug ist. Immer mit dem Ziel, seine Filme, seine Musik, seine Produkte zu verbannen, seine Wortbeiträge zu verhindern oder gleich seine ganze Karriere zu zerstören. (…) Und damit wären wir auch beim Hauptkritikpunkt des Kampfbegriffs. Denn die Prominenten, die sich so ausgiebig über die vermeintliche “Cancel Culture” oder die Einschränkung der Meinungsfreiheit empören, befinden sich in den seltensten Fällen tatsächlich in einer Opferrolle. Das dürfte für J. K. Rowling gleichermaßen gelten wie für Dieter Nuhr. Im Gegenteil: Die meisten von ihnen verfügen über riesige Reichweiten, was für ihre Kritiker nicht gelten dürfte.Trotzdem empfinden sie offenbar den Protest im Netz als hochbedrohlich. Nuhr nennt seine Kritiker beispielsweise “Krawallmacher” – die Deutsche Forschungsgemeinschaft würde sich diesen “unterwerfen”, sagte er der “Welt”. Hinzu kommt, dass Populisten und Machthaber wie etwa Donald Trump das Fenster der Meinungsfreiheit in den vergangenen Jahren eher gedehnt als verkleinert haben dürften.
via rnd: Dieter Nuhr und die Empörung: Was ist eigentlich “Cancel Culture”?